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Steglitzer Stadtpark: Das Geheimnis der verlorenen Puppe

Ein Kleinod für Anwohner: Der Steglitzer Stadtpark ist kein Laufsteg für hippe Großstädter. Er lebt ganz von seiner unaufdringlichen Schönheit. Und auch Kafka ging hier spazieren.

Wer von Kreuzberg nach – Steglitz zieht, erntet genau das: einen langen Gedankenstrich des Unglaubens. Erzähl einem eingefleischten Bergmannstraßen-Kreuzberger, dass du nach Steglitz umsiedelst und du siehst, was Entsetzen ist. In den Speckgürtel (der für den BergmannstraßenKreuzberger schon südlich des Tempelhofer Feldes beginnt)? Geht gar nicht! Aber auch bei denen, die ständig davon reden, den Kiez verlassen zu wollen, stehen Steglitz, seine Grünflächen und Parks nicht hoch im Kurs. Man zieht von Prenzlauer Berg nach Pankow, von Charlottenburg nach Westend (oder nach Dahlem), von Kreuzberg (westliches) in die Tempelhofer Fliegersiedlung oder (östliches) Richtung Treptow und Köpenick. Steglitz ist auf diesem Siedlungsplan nicht verzeichnet! Zu unspektakulär, zu durchschnittlich, zu nichtssagend. Ein weißer Fleck, wie Lichtenrade oder Marienfelde.

Ausnahmen bestätigen die Regel. „Dann wohnt ihr ja direkt am schönen Steglitzer Stadtpark“, sagte eine Bekannte. Genau! Direkt am Park! Wobei es mit dessen Schönheit seine eigene Bewandtnis hat. Wie die seiner Umgebung ist sie eine eher unauffällige, bescheidene. Es gibt darin keine Sehenswürdigkeit wie das Otto-Lilienthal-Denkmal im Lilienthalpark einige Kilometer weiter südlich. Es gibt kein Gutshaus wie im Lichterfelder Schlosspark, kein Café am lieblichen See. Das Café ist ein Texas-Steakhouse mit Servietten zum Kroatisch-Lernen.

Der Steglitzer Park: robust und verwunschen

Der Park liegt im östlichen Steglitz südlich der Albrechtstraße, erstreckt sich einige hundert Meter bis zum Teltowkanal und wird an seiner westlichen Seite von der Sedanstraße begrenzt. Er ist das, was man vielleicht einen sympathischen Gebrauchspark, einen praktischen Um-dieEcke-Park nennen könnte. Ein robuster Ort für Anwohner: Liegewiesen, kleine Gewässer mit Bänken, eine breite Allee zum Joggen und Durchradeln (zum Teltowkanal) und im Zentrum ein Rondell mit Springbrunnen, zwischen 1906 bis 1914 vom Gartenbauinspektor Rudolf Korte und dem Gartendirektor Fritz Zahn angelegt. Sein Geburtsdatum wird heute meist auf 1912 datiert, der Stadtpark feierte bereits seinen 100. Geburtstag! 1917 kam das hinzu, was die Stadtführer noch immer als Highlight bezeichnen, ein Rosengarten. Später folgten der Minigolfplatz, die Verkehrsschule und der Fußballkäfig, dezent hinter Bäumen verborgen. Alles ist sehr besucherfreundlich.

Zugleich liegt (in homöopathischer Dosierung) etwas Verwunschenes über den mal kurz geschorenen, mal wilden Wiesen. Denn trotz seiner Weitläufigkeit ist das Areal kleinteilig strukturiert, so dass sich immer wieder noch ein Teichlein, noch ein kleiner, mit Birken bewachsener Hügel zeigt. Und von überall her hört man das Geräusch spielender Kinder. Wenn dieser gutmütig-zurückgenommene Park sich überhaupt mit etwas in den Vordergrund drängt, dann mit seinen drei, vier Spielplätzen, die echte Spielplätze sind und keine Erlebniswelten mit gummiüberzogenen Hügellandschaften und Fun-Trampolinen. Hier gibt es ganz normale Klettergerüste aus Holz, altertümliche Seilbahnen und Schaukeln, an denen simple Reifen hängen.

So ein Spielplatz ist kein verkappter Laufsteg. Man sieht kaum Jungväter mit gestutzten Bärten und rosa Sonnenbrillen auf der Nase. Eher unwahrscheinlich auch, dass man hier einem „Tatort“-Schauspieler mit Nachwuchs begegnet oder Heike Makatsch dabei beobachten kann, wie sie ihrer Tochter das Radschlagen beibringt. Dafür bietet, nur einen Steinwurf vom Park entfernt, der Jugendclub „Albert Schweitzer“ Kurse in Disco-Fox an.

Ganz so lokal beschränkt ist die Ausstrahlung des Stadtparks freilich auch nicht. In einem Musikpavillon finden im Sommer Konzerte statt, die auch Zuschauer aus anderen Bezirken anziehen. An diesem Freitag Anfang Juli ist der Pavillon aber verbarrikadiert. An der nahen Allee spielt eine Gruppe Halbwüchsiger Ballhochhalten. Ein Mann mit nacktem Oberkörper ist auf einer Bank beim Sitzen eingeschlafen. Auf einer Anschlagstafel kündigt ein Zettel während der Ferienzeit „Baummeditationen“ an, eine freundliche Einladung, „sich mit Gleichgesinnten zu treffen und sich mit Bäumen zu verbinden“. Das Plakat daneben erinnert daran, dass vor zwei Jahren ein Mädchen im Park verschwand. Ein leerer Buggy wurde gefunden und Passanten hörten zwei Männer hinter einer Hecke von einem Mädchen sprechen. Großfahndung, Polizisten durchkämmten das Areal, das Mädchen fand man nicht.

Artikel über die Geschichte des Parks und über Steglitz, das 1920 mit 80 000 Einwohnern als „größtes Dorf Preußens“ eingemeindet wurde, finden sich im Steglitzer Heimatverein in der Drakestraße. Zwischen Albrecht- und Birkbuschstraße, erfährt man dort, bauten Handwerker, Angestellte, Gewerbetreibende und Beamte Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Häuser auf Land, das sie Bauern abgekauft hatten, und gründeten die Kolonie Stegelitz. Wo heute der Park liegt, befanden sich noch Anfang des 20. Jahrhunderts Privatgärten. Mit der Umwandlung der Bäke in den Teltowkanal trocknete der Boden aus – die Gärten wurden von der Stadt gekauft und „der Steglitzer Stadtpark – das Juwel des Berliner Südwestens – war geschaffen“, wie Wilhelm Kroll 1962 im „Steglitzer Lokalanzeiger“ schrieb.

Mit Konzerten im Stadtpark-Restaurant – „dreimal wöchentlich von Militär- und Zivilkapellen“ – , hatte der Park vor 100 Jahren den Charakter eines Kurparks, so Kroll. Anfang der zwanziger Jahre kam auch Franz Kafka regelmäßig hierher, mit seiner Freundin Dora Diamant . Dabei soll er, wie sie schreibt, einem weinenden Mädchen begegnet sein, das seine Puppe verloren hatte. Kafka tröstete es: Die Puppe sei nicht verschwunden, sondern nur verreist und habe ihm einen Brief geschrieben. Kafka ging nach Hause, schrieb diesen Brief, traf das Mädchen am nächsten Tag wieder und las ihm auf einer Parkbank von den Abenteuern der reisenden Puppe vor. 20 Briefe und Parklesungen soll es gegeben haben, in denen die Puppe größer wurde, in die Schule kam, am Ende sogar einen Mann kennenlernte, den sie heiratete, weshalb sie leider nicht zu dem Mädchen zurückkommen konnte.

1924 starb Kafka, seine Werke wurden später von der Gestapo beschlagnahmt. Die Briefe sind bis heute verschollen. Im Heimatmuseum kann man die Kopie eines Anzeigenblatts von 1959 einsehen. Darin wird nach einer 1917 geborenen Frau gesucht, die als junges Mädchen eine Puppe verlor. „Ein großer, leidend aussehender Mann mit seiner Begleiterin versuchte das Mädchen zu trösten ...“ Niemand hat sich auf die Anzeige gemeldet.

Auch wenn der Steglitzer Stadtpark von unaufgeregter Bescheidenheit ist, Geheimnisse hat er wohl.

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