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Brandenburg: Verwilderung als Zukunftsvision

Experten befürchten Abwanderung und Verödung Politiker will Landschaften sich selbst überlassen

Potsdam - Wie geht man mit dem Problem um, dass die Berlin fernen Städte Brandenburgs nach aktuellen Prognosen in den nächsten 25 Jahren wegen Geburtenmangels und Abwanderung bis zu 40 Prozent ihrer Einwohner verlieren werden? Soziologen sind überzeugt, dass in strukturschwachen ländlichen Gebieten perspektivisch Ortschaften aufgegeben werden müssen. In einem provokanten Thesenpapier, das dem Tagesspiegel vorliegt, plädiert SPD-Politiker Thomas Kralinksi jetzt dafür, künftig auch „kontrollierte Verwilderung“ im Land zuzulassen.

Kralinski, der zum engsten Beraterkreis um Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) gehört, ist Geschäftsführer der Landtagsfraktion und Chefredakteur der parteinahen Zeitschrift „Perspektive 21“. In der nächsten Ausgabe des Blattes schreibt er: Brandenburg werde damit leben müssen, dass nicht alle Regionen entwickelt werden könnten und „manche Region zum Rückzugsraum für Natur und Tier wird“. Der Nationalpark Unteres Odertal sei ein erfolgreiches Beispiel dafür, „wie bewirtschaftete Fläche Schritt für Schritt wieder der Natur überlassen wird“.

Für den SPD-Vordenker steht fest, dass der „geordnete Rückzug und die kontrollierte Schrumpfung“ in einigen ländlichen Regionen die klassische Wirtschaftsförderung ablösen werden und müssen. „Dabei geht es nicht um kompletten Rückzug, sondern um touristisch nutzbare Landschaftsparks, den Anbau nachwachsender Rohstoffe, aber auch um kontrollierte Verwilderung“, so Kralinkski wörtlich. Die Kommunen sollten sich auf dieses Konzept einlassen und sich nicht wechselseitig Einwohner und Infrastruktur streitig machen wie bei den Schulen, wo sie bereits heute beim Wettkampf um Schüler zu „Kannibalisierung“ neigten.

Kralinskis These vom „geordneten Rückzug“ ist allerdings umstritten. Die Landesregierung geht, wie sie auf Anfrage erklärte, „in einem absehbaren Zeitraum nicht von einer Aufgabe bzw. dem Wüstfallen kleinerer ländlicher Gemeinden in nennenswertem Umfang aus“. Auch der Präsident des Landesumweltamtes, Matthias Freude, glaubt nicht daran, dass Teile Brandenburgs in der Zukunft zur „kontrollierten Wildnis“, also der Natur überlassen, werden. Der prognostizierte Bevölkerungsrückgang sei zwar nicht anzuzweifeln: „Aber die Schrumpfung wird nicht so stark kommen“, meint Freude. Seine Prognose: In Zukunft würden wieder mehr Kinder geboren und viele, gerade intelligente Leute die ländlichen Regionen entdecken und dort hinziehen. Zudem werde der Nutzungsdruck zunehmen: „Ich glaube nicht, dass mehr Flächen der Natur überlassen werden, dazu sind sie viel zu wertvoll.“ Holz und andere nachwachsende Rohstoffe seien knapp und würden dringend gebraucht. Freude ist überdies überzeugt, dass die touristische Nutzung auch der Randregionen Brandenburgs durch die Berliner in den nächsten Jahrzehnten „dramatisch zunehmen“ wird.

Kralinski hebt in seinem Thesenpapier noch andere brisante Konsequenzen des Bevölkerungsrückgangs hervor, so die gravierende Schrumpfung des Arbeitsmarktes. Nach den Prognosen wird die Zahl der Erwerbsfähigen zwischen 15 bis 65 Jahren in den äußeren Regionen des Landes bis 2030 um 40 Prozent zurückgehen, in wichtigen Industriestädten wie Wittenberge, Eisenhüttenstadt, Schwedt oder Guben sogar um über 50 Prozent.

Wegen der dramatischen Zuspitzung des Fachkräftemangels werde es, betont Kralinski, ohne Zuwanderung nicht gehen. Schon heute müsse man in der Uckermark auf polnische Ärzte und Schwestern zurückgreifen. Die Notwendigkeit von Zuwanderung sei aber „den meisten Brandenburgern nicht bewusst“ und die ostdeutsche Gesellschaft so schlecht wie kaum eine andere darauf vorbereitet. Seine Forderung: Es müsse viel mehr als bisher für ein zuwanderungsfreundliches Klima im Land getan werden.

Konsequenzen fordert Kralinski auch, um die Abwanderung vor allem junger und gut ausgebildeter Frauen aus den Randregionen zu stoppen. Nach den Prognosen werden dort 2030 auf 100 Männer nur noch rund 80 Frauen kommen. Um die Frauen im Land zu halten, fordert Kralinski eine „weibliche Wirtschaftspolitik“ mit familienfreundlichen Arbeitszeiten, flexiblen Kitas und Unternehmen, die die Bedürfnisse der Frauen ernst nähmen. SPD-Generalsekretär Klaus Ness bringt noch einen anderen Vorschlag in die aktuelle Debatte ein: Die aus Brandenburg abgewanderten jungen Menschen müssten gezielt motiviert werden zurückzukehren. Dass das möglich sei, zeige aktuell die Solarfabrik in Frankfurt (Oder).

Michael Mara

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