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Brandenburg: Warum nur?

ClausDieter Steyer über das Phänomen Baumblütenfest, das Jahr für Jahr Tausende anlockt ANGEMARKT Es wird gedrängelt, geschubst und gestoßen. Der Obstwein schmeckt erst nach dem dritten oder vierten Schluck, und der Ausschank von Alkohol in Plastikbechern und -flaschen ist nur mit viel Überwindung zu ertragen.

ClausDieter Steyer über das Phänomen Baumblütenfest, das Jahr für Jahr Tausende anlockt

ANGEMARKT

Es wird gedrängelt, geschubst und gestoßen. Der Obstwein schmeckt erst nach dem dritten oder vierten Schluck, und der Ausschank von Alkohol in Plastikbechern und -flaschen ist nur mit viel Überwindung zu ertragen. Dazu muss sich die Nase auf immer neue Gerüche einstellen. Da brutzelt die China-Pfanne neben der Aal-Räucherei, Bratwürste dampfen in Nachbarschaft zu großen Scheiben Rind- oder Schweinefleisch und französischen Teigtaschen. Verkäufer von Socken, Taschen, Käse oder Fußballtrikots liefern sich lautstarke Duelle mit den Grünzeug-Profis aus Holland und dem Lärm aus den Lautsprechern der CD-Anbieter. Aus der Ferne dröhnen die Verstärker einer Nachwuchs-Rockband, während sich ein ergrauter Schlagerstar mit dem Play-back-Computer abmüht.

Nein, das Phänomen des Baumblütenfestes in Werder ist nicht einfach zu erklären. Eine halbe Million Besucher erwartet der kleine Ort an der Havel bis zum nächsten Sonntag. Nur das Oktoberfest in München ziehe noch mehr Gäste an, behaupten zumindest die Stadtväter. Die Obstbauern hoffen nach dem langen Winter auf gute Geschäfte. Sie haben in den vergangenen Monaten tonnenweise Früchte aller Art gepresst und vergärt und bringen jedes Jahr rund 200 000 Liter des zehnprozentigen und süßen Gesöffs an den Mann, manchmal auch an die Frau.

Vielleicht wirkt der Name des Festes wie ein Magnet. Baumblüte – das bedeutet Aufbruch im wahrsten Sinn des Wortes. Da wollen viele Großstädter dabei sein, auch wenn sie im Festgetümmel gar nicht die schöne Natur genießen können. Da müssten sie sich schon zu den Obstgärten über der Stadt oder in der Umgebung aufmachen. Doch meist reicht die Kondition nur für den 25-minütigen Spaziergang vom Bahnhof zur Insel.

Sicher spielt die Macht der Gewohnheit eine wichtige Rolle. Schließlich gehört der Ausflug nach Werder im Frühjahr gerade bei vielen Berlinern einfach zum Ritual. Man will den Blick von der Inselbrücke auf Mühle und Heilig-Geist-Kirche jedes Jahr wieder genießen, obwohl sich daran garantiert nichts ändert. Das steckt eben seit der Kindheit so drin. Und auch heute werden die Kleinen mitgeschleppt, ob sie wollen oder nicht.

Da trifft es sich gut, dass die idyllisch am Wasser gelegene Blütenstadt nur einen Katzensprung von der Berliner Scholle entfernt liegt. Möglicherweise fühlen sich die Großstädter deshalb hier so wohl, denn hier sind sie weitgehend unter sich. Und damit kann kein anderes Ausflugsziel im Umland konkurrieren.

Alles zusammengenommen macht die Faszination des Baumblütenfestes vielleicht verständlich. Deshalb sind die Stadtväter gut beraten, nichts an dem auf den ersten Blick etwas verstaubt und merkwürdig erscheinenden Konzept zu ändern. Die Gäste mögen gerade diese Mischung, selbst den Obstwein aus Plastikbechern.

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