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Brandenburg: Was der Westen vom Osten lernen kann

Ministerpräsident Matthias Platzeck über Improvisation, Zurückhaltung und das Bestehen im härtesten Wettbewerb

Sie stellen die provokante These auf, dass die Bundesrepublik gerade jetzt von Ostdeutschland lernen sollte, um die Krise der Arbeits und Sozialsysteme zu überwinden. Was kann der Westen denn vom Osten lernen?

Sehr viel. Die Bereitschaft zu nötigen Veränderungen, sich ohne ideologische Scheuklappen die Verhältnisse anzuschauen, bereit zu sein, über Jahrzehnte Gewohntes in Frage zu stellen, nicht lange in alten Strukturen zu verharren. Jeder Stillstand bedeutet Rückschritt. Es geht um Handeln in der Gewissheit, dass nichts bleibt wie es war.

Überschätzen Sie nicht die Umbrucherfahrungen Ostdeutschlands seit 1990?

Nein, denn es waren in den letzten 13 Jahren schwierigste Umbrüche zu bewältigen. Strukturen sind umgekrempelt worden, Berufe mussten gewechselt werden. Fast jede Familie hat Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit gesammelt. Die Ostdeutschen haben sich auf Bedingungen härtesten Wettbewerbs eingestellt, wobei ihnen zu DDR-Zeiten geübtes Improvisationsvermögen, die Kunst, aus wenigem möglichst viel zu machen, zugute kam. Es gibt hier weniger Verwöhneffekte. Und es ist ein erhebliches Erfahrungs- und Kräftepotenzial herangewachsen.

PDS-Fraktionschef Lothar Bisky bezweifelt eine Vorreiterrolle der Ostdeutschen.

Es geht nicht um eine Vorreiterrolle, auch nicht um ein Gesamtkonzept. Und niemand hat behauptet, dass es die alleinige Lösung ist. Aber es ist doch Tatsache: Wir haben viel und gern von Westdeutschland gelernt. Was völlig ausgeblieben ist, dass auch in umgekehrter Richtung abgeklopft wird, ob nicht Sinnvolles genutzt werden kann.

Liegt es nicht an ostdeutschen Politikern selbst, dass sie in der bundespolitischen Debatte kaum zu vernehmen sind?

Mag sein, aber nur zum Teil. Andererseits hat es auch mit in Jahrzehnten gewachsenen Strukturen, Netzen, Beziehungen zwischen Personen zu tun. Wenn zahlenmäßig wenige Ostdeutsche in Spitzenfunktionen sind, sind sie auch weniger zu hören. Hinzu kommt, dass eine gewisse Zurückhaltung eher zur Ost-Mentalität gehört. Was ich übrigens gar nicht für falsch halte: Weniger reden, mehr Handeln ist langfristig besser. In Talkshows verändert man die Welt nicht.

Werden mit dem Plädoyer für neues ostdeutsches Selbstbewusstsein nicht Ost-West-Unterschiede kultiviert?

Das ist nicht mein Anliegen. Aber es gibt nun einmal beim Zusammenwachsen noch viele Fehlstellen. Die Zahl derer wächst, die sich zuerst ostdeutsch und erst dann bundesdeutsch fühlen. Das liegt daran, dass nicht gleichberechtigt ostdeutsche Erfahrungen aufgenommen wurden. Insofern ist es ein Beitrag für das Zusammenwachsen, wenn sich der Osten stärker artikuliert – und dies offen aufgenommen wird.

An der SPD-Basis rumort es wegen der Einschnitte in den Sozialsytsemen. Droht auf dem SPD-Sonderparteitag der Kanzler-Sturz?

Nein. Ich erwarte eine offene, aber zielführende Debatte, in der sich die Erkenntnis manifestiert, dass diese Gesellschaft sich ändern muss, dass wir unsere Sozialsysteme modernisieren müssen, wenn sie uns nicht in fünf Jahren um die Ohren fliegen sollen. Ich erwarte aber auch, dass diese Notwendigkeiten so gerecht und sozial wie möglich umgesetzt werden.

Das Gespräch führte Thorsten Metzner.

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