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Panorama: "1926": Die junge Frau trägt Smoking

Das finale "Ach!" der Alkmene in Heinrich von Kleists "Amphitryon" ist das erste Stichwort des jüngst erschienenen, alphabetisch angeordneten Kleists-Buches von László Földényi.

Das finale "Ach!" der Alkmene in Heinrich von Kleists "Amphitryon" ist das erste Stichwort des jüngst erschienenen, alphabetisch angeordneten Kleists-Buches von László Földényi. So hatte schon Gustave Flaubert sein "Wörterbuch der Gemeinplätze" angelegt, so hat 1970 der österreichische Schriftsteller Andreas Okopenko seinem "Lexikon Roman" eine A - Z-Struktur gegeben. Der Leser solle sich, schrieb Okopenko in einer "Gebrauchsanweisung", den Roman oder vielmehr die sentimentale Reise ins Marketing-Zeitalter selbst aus den alphabetisch sortierten und mit Verweispfeilen einander zugeordneten Stichworten zusammen-"basteln".

Auch "1926", das schon vor vier Jahren bei seinem Erscheinen in den USA gefeierte Buch des deutschen Romanisten und Komparatisten der Stanford University, Hans Ulrich Gumbrecht, beginnt mit einer "Gebrauchsanweisung", die deutlich macht, dass unter den alphabetisch angeordneten 51 deskriptiven "Dispositiven" (die uns das Jahr 1926 disponibel erscheinen lassen), unter den Kapiteln über Codes und "zusammengebrochene Codes" kein hierarisches Verhältnis besteht.

Es ist uns anheim gestellt, wo wir zu lesen beginnen, wenn wir nur bereit sind, "In 1926" (so der amerikanische Titel) zu sein. Unter Bars, Bergsteigen und Boxen, Fahrstuhl, Fernsprecher, Feuerbestattung und Fließband oder Polaritäten und Pomade gibt es keine Prioritäten, und in der Tat alphabetisieren die amerikanische Ausgabe und die Übersetzung von Joachim Schulte das Jahr 1926 in unterschiedlicher Folge wie es die englischen und deutschen Alphabete bestimmen.

Joesphine Baker trifft Heidegger

Hans Ulrich Gumbrechts "Versuch über historische Gleichzeitigkeit" will die sinnliche Vergegenwärtigung eines Tag für Tag belegbaren Jahres erreichen, eines Jahres "am Rand der Zeit", das nicht als Epochen- oder Schwellenjahr gilt, als welche Felix Philipp Ingold in seinem 2000 erschienenen Buch das Jahr 1913 verstanden wissen wollte. Diese Begriffe setzen ein historisches Kontinuum voraus, eine Entwicklung, die es nahe legt, aus der Geschichte zu lernen. Gumbrecht glaubt nicht mehr an die pädagogische Kraft der Geschichte und favorisiert bescheiden den heute gängigen Begriff Umwelt. 1926 war die Umwelt, in der die Menschen in jenem Jahr gelebt haben. Die Erfahrungen der Menschen sind an den literarischen Quellen des Jahres ablesbar. Dazu zählen Bücher, Aufsätze und Gedichte von Johannes R. Becher, Sigmund Freud, Ernest Hemingway, Franz Kafka, Theodor Lessing, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und B. Traven.

Die europäischen und deutschen Quellen, zu denen auch Berliner Zeitungen gehören, sind in der Überzahl; die afro-amerikanische Tänzerin Josephine Baker gerät auf deutsch und in Berlin in die Druckzeilen als Exempel des Codes "Authentizität versus Künstlichkeit". Im abschließenden Rahmen-Kapitel des Buches stellt Hans Ulrich Gumbrecht fest, dass Martin Heideggers "Sein und Zeit" einen "frappierend umfassenden Bereich kultureller Codes aus der Welt des Jahres 1926 in einem komplexen Gebilde miteinander verbunden und verflochten hatte". Der Autor legt wert auf die Feststellung, dass Heideggers "Sein und Zeit" zwischen April und Dezember 1926 geschrieben wurde und wegen seiner besonderen Bedeutung für das Jahr 1926 als Zeugnis der Synthese heranzuziehen sei - obwohl es erst im April 1927 erscheint.

Martin Heidegger muss sich gefallen lassen, mit dem Romancier Hans Friedrich Blunck verglichen zu werden, der 1933 zum ersten Präsidenten der Reichsschrifttumskammer ernannt wurde. Die Ausführlichkeit der Argumentation zur Datierung von "Sein und Zeit" mutet befremdlich an, da Gumbrecht es an anderen Stellen mit den Erscheinungsjahren so genau nicht nimmt. So mag zwar Walter Benjamins "Einbahnstraße" als Textmasse 1926 vorhanden gewesen sein, aber verfügbar war das Buch doch erst 1928. Dann erst konnte es mit seiner berühmten Widmung an Asja Lacis und der Umschlag-Collage von der Sasha Stone Ausdruck seiner Zeit werden. Adolf Hitlers "Mein Kampf" ist in zwei Bänden 1925 und 1927 erschienen; 1926 blieb auch in dieser Hinsicht das Jahr am Rand der Zeit.

Kleine Gedächtnislücken

Gegen faszinierte Kritiker muss man freilich Hans Ulrich Gumbrecht auch in Schutz nehmen: Er hat nicht behauptet, dass Kracauers Buch "Die Welt der Angestellten" 1926 erschienen sei. Wer so literaturbesessen argumentiert wie Gumbrecht sollte allerdings auch wissen, dass die von der nackten Josephine Baker umschlungene "junge Frau im Smoking" (zusammengebrochener Code "Männlich = Weiblich") die deutsche und seit 1939 über lange Zeit amerikanische Schriftstellerin Ruth Landshoff war, die durchaus würdig gewesen wäre, ins Register aufgenommen zu werden und übrigens eine Nichte des Verlegers S. Fischer war.

Ärgerlich sind auch die hilflosen und unnötigen Berufsbezeichnungen für Siegfried Kracauer und Ernst Toller als "Journalist", für Marcel Breuer und László Moholy-Nagy als "Designer", für den Literaturwissenschaftler Julius Petersen als "Literaturkritiker" oder Kurt Schwitters als "Dichter".

Und fehlt was? Ja, sicher: Beispielsweise Carl Einsteins große Darstellung der Kunst des 20. Jahrhunderts, der erste Paneuropäische Kongress des Grafen Coudenhove-Kalergi in Wien oder Max Beckmanns großartiges Selbstporträt im Smoking von 1926. Wer möchte denn schon in einem Jahr ohne Musik oder die bildenen Künste sein?

Dies ist ein Literaturbuch, ein anregendes und spannendes Werk mit kleinen Makeln, eine panoramatische Synchronie zu Boxen, Eisenbahnen, Jazz, Mumien oder Stierkampf, eine Bestandsaufnahme vor 1929, dem Jahr an der Schwelle zu 1933.

Herbert Wiesner

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