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© AFP

24. Januar 2010: Tag 7: Sie helfen Schulter an Schulter

Im Konvoi fahren deutsche Hilfsorganisationen nach Leogane, dem Epizentrum des Bebens – und führen ihre Kräfte zusammen.

Die Blauhelm-Soldaten gucken skeptisch: Ist dieser Wagen, der mehr ein Führerhaus mit Käfig dahinter ist, hier richtig? Hier, das ist der abgeriegelte Flughafen von Port-au- Prince, Haitis erdbebengeschüttelter Hauptstadt. Das merkwürdige Vehikel gehört zu den deutschen Ärzten und Schwestern von humedica. Sie wollen mit einem Konvoi der Hilfsorganisationen – insgesamt sind bei der Botschaft 25 deutsche registriert – nach Leogane, dem Epizentrum des Bebens.

Zwölf Fahrzeuge, vom Käfigwagen bis zum nagelneuen Land-Rover, bei dem noch nicht einmal die Schutzhüllen der Rücksitze entfernt worden sind, ziehen los: Die roten Westen von humedica, die beigen der Johanniter, die blauen Shirts der Malteser, das hellblaue Shirt des zu World Vision gehörenden Abgesandten des Bündnisses Aktion Deutschland hilft, und allen voran in fliederfarbenem Poloshirt, blassgelber Weste mit Reflektorstreifen, beigem Sonnenhütchen und milchigfarbener Brille Rolf Stumpenhorst, Regionalarzt des Auswärtigen Amtes und medizinischer Berater der Botschaft. Wir helfen hier gemeinsam, da gibt es keine Konkurrenz – das ist das Signal, das der Tross nach Deutschland senden will.

Nach dem Tsunami 2004 hat es viel Kritik an dem unkoordinierten Nebeneinander der Hilfe gegeben, jetzt wollen sie zeigen, dass sie ihre Lektion gelernt haben. In einer Schule warten Ärzte aus Kuba, den USA und von Navis, einer Truppe der Münchner Flughafenfeuerwehr. Hier arbeiten sie Hand in Hand. „Wir arbeiten hier wie im Krieg, die Amerikaner sind noch schlechter ausgestattet als wir, die operieren auf Schultischen“, sagt Thomas Geiner aus Moosburg und bittet um medizinische Unterstützung und Lebensmittel für die Patienten.

Inzwischen entwickelt sich die Drei- Länder-Klinik von Leogane zu einer gefragten Anlaufstelle. Auf dem Fahrrad bringen sie Patienten mit offenen Schädelverletzungen, andere kommen zu viert auf einem kleinen Moped, eine Matratze für den Patienten unterm Arm. Hinter dem Lazarett landen US-Hubschrauber mit schwer Verletzten aus der Umgebung. Anderthalb Wochen nach der Katastrophe steigt die Zahl der Patienten noch immer, fast den ganzen Tag amputieren die Münchner.

Die vier Helfer des humedica-Teams laden ihre Materialkisten aus und schlagen ein Ambulanzzelt auf. Operateure können sie hier im Moment nicht gebrauchen, denn die müssten ein eigenes OP-Zelt dabei haben. Im Gebäude arbeiten sie nicht mehr „nachdem wir fünfmal sooo gestanden haben“, sagt Geiner und wackelt wie eine Gummipuppe.

Die Karawane zieht weiter. Vor den Toren der UN-Mission Minustah treffen sie die Kollegen der Cascos Blancos. Die betreiben hier ein Feldlazarett, die Patienten liegen notdürftig auf Decken oder Laken direkt im Dreck unter einem Baum, unter dunkelgrünen Zeltplanen auf dem Rasen. Hinter einer als Wand dienenden Plane haben sie mit ein paar löchrigen Fetzen „Cama 1“ aufgebaut, hier versuchen sie eine völlig ausgetrocknete Frau wieder aufzupäppeln. Auch sie schicken schwer Verletzte zu chirurgischen Eingriffen ins Drei-Länder-Hospital.

Was vor allem fehlt, ist Wasser. THW- Mitarbeiter Daniel Riedel fürchtet, es werde wohl Ende nächster Woche werden, bevor sie für Leogane „Wasser machen“, wie sie das nennen. Die Suche nach einer Quelle war „bisher wenig ergebnisreich“ – irgendein Rohwasser brauchen sie, um helfen zu können, hier aber fließt nur so etwas wie ein Bächlein. Riedel, der daheim in Kaiserslautern bei den US-Streitkräften als Logistiker arbeitet, ist voller Bewunderung für den Colonel des South Commands, der den Airport in Port-au-Prince mit seinen Leuten übernommen hat. „Die haben nur eine runway, aber was die da an Hilfe reinbringen, das könnten andere nicht“, sagt Riedel. Und kooperativ seien die US-Truppen auch.

Gemeinsamkeit will geübt sein, jede Hilfsorganisation hat ihre eigene Kultur. Und schließlich will bei aller Kooperation auch jeder für sich sichtbar bleiben.

Einige der Truppe sind losgezogen, am Markt von Leogane Lebensmittel zu verteilen. Keine einfache Sache. Die ausgehungerten Menschen stürmen die Transporte, manche Helfer müssen die Verteilung abbrechen, weil sie die Situation nicht kontrollieren können.

Am Markt von Leogane steht praktisch kein Gebäude mehr. Es muss einmal eine schöne Stadt gewesen sein. Das Haus an der Ecke sieht aus, als sei es in voller Fahrt aus einer Kurve getragen worden, die Bank nebenan ist beschädigt, das Restaurant mit der gelben Mauer daneben – weg. Dahinter ist ein Brunnenloch geblieben. Über Trümmern sind Leinen gespannt und Wäsche aufgehängt. Irgendwie muss der Alltag ja weitergehen. Auch wenn selbst das Gotteshaus nebenan in Trümmern liegt. Nicht einmal die Grabsteine auf dem Friedhof ein paar Straßenzüge weiter sind stehen geblieben.

Ganze Straßenzüge sind in Leogane zusammengefallen. An der Rue la Croix versuchen sie, Holzlatten aus dem Schutt zu ziehen. Die Menschen wohnen hier auf dem Mittelstreifen. Selbst die, die noch ein Haus haben, wollen nicht mehr darin schlafen: Zu groß ist ihre Angst, denn immer wieder zittert der Boden.

Ein paar Trümmerberge weiter befindet sich ein grünes Holzhaus, etwas wackelig, aber es steht. Eine angelehnte Tür. An der Wand ein Jesusbild, um den Tisch dunkle Holzstühle mit hohen Lehnen, auf der weißen Spitzendecke zwei Hauben, mit denen man Fliegen vom Essen fernhält, eine rot, eine gelb, und ein Kunstblumengebinde. Alles verstaubt. Hier ist offenbar seit dem Beben niemand mehr gewesen. Von einer Sekunde auf die andere ist das Leben stehen geblieben. Wo sind die Menschen geblieben, die hier zu Hause waren?

Nebenan beim Tischler stehen drei Särge vor der Tür, der Bedarf ist immer noch groß. Auf der Straße laufen ein paar kichernde Teenager. An der Kreuzung fährt ein Pärchen auf dem Moped vorbei. Sie sitzt rücklings, auf dem Schoß einen Korb mit einem riesigen leuchtend roten Fisch. Es sieht aus wie das pralle Leben. Mitten im Tod.

Die vier von humedica schwitzen in ihrem Ambulanzzelt. Sie werden morgen wiederkommen. Demnächst aber dort bleiben – die Fahrt jeden Tag dauert einfach zu lange. Und sie wollen doch helfen. Jetzt aber freuen sie sich erst mal auf eine Toilette und eine Dusche – nach zwei weiteren Stunden Heimfahrt.

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