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25 Jahre "Dirty Dancing": Die Politik der kleinen Schritte

„Dirty Dancing“ gilt als Mädchenschmonzette. 25 Jahre nach dem Kinostart deckt nun ein Buch auf: Der Film ist politisch, jüdisch, pornografisch. Ein Wiedersehen.

Von Anna Sauerbrey

Kein Prosecco. Kein Jogi-Tee. Keine fettfreien Haribos. Kein Mädchenkram. Wenn ich schon „Dirty Dancing“ gucke, heute, mit 32 Jahren, 25 Jahre, nachdem der Film in die Kinos kam, dann im Rahmen eines wissenschaftlichen Versuchsaufbaus. Ich schalte alle Lichter im Zimmer an und stelle das iPad mit dem Film auf den Schreibtisch. Daneben den Laptop, für Notizen. Ich starte den Film und tippe: „2:24: Baby sitzt auf dem Rücksitz eines Autos und liest ein Buch.“ Ich halte den Film wieder an. Ich entziffere den Titel. Baby liest „The Plight of the Peasant“ – Die Misere der Bauern. Ich wechsle in den Browser und gebe den Titel in die Datenbank der Library of Congress ein, dann bei Google Books. Keine Treffer. Offenbar ein fiktives Werk. Schon jetzt, bei zwei Minuten 24 Sekunden Spielzeit, die erste Überraschung. Dirty Dancing, der Inbegriff des oberkitschigen Frauenfilms, beginnt damit, dass die Hauptfigur marxistische Prosa liest. Und das während der Fahrt, wobei Mädchen ja bekanntlich normalerweise schlecht wird.

Ein paar Tage zuvor hat ein Kollege angerufen. Er erzählte, es gebe da so ein neues Buch in einem Berliner Nischenverlag. Das Buch versuche eine Neubewertung von Dirty Dancing. Dirty Dancing sei nämlich in Wirklichkeit ein politischer Film. Har, har, sagte ich. Ob ich nicht das Buch lesen und den Film noch einmal schauen könnte. Ich sagte zu.

Dirty Dancing kam 1987 in die Kinos und wurde ein gigantischer Erfolg. Insgesamt, schreibt Hannah Pilarczyk, Kulturredakteurin bei „Spiegel Online“ und Herausgeberin des kleinen Sammelbands mit Essays („Ich hatte die Zeit meines Lebens. Über den Film ,Dirty Dancing’ und seine Bedeutung“, Verbrecher Verlag), spielte der Film an den internationalen Kinokassen 200 Millionen Dollar ein. Der Soundtrack wurde 42 Millionen Mal verkauft, häufiger als „Bad“ von Michael Jackson. Bis heute läuft der Film jedes Jahr im deutschen Fernsehen und bringt immer gute Quoten. Dirty Dancing ist ein Film, den fast jeder gesehen hat, viele sogar mehrfach. Gleichzeitig ist der Film einer der meistgehassten aller Zeiten. Hannah Pilarczyk hat ihn auf Platz 6 der „Playboy“-Liste der zehn schlimmsten „Chick-flicks“ entdeckt, der zehn schlimmsten Frauenfilme der Geschichte. Die Feuilletons mochten ihn nicht, die Filmwissenschaft hat ihn schlicht ignoriert. Dirty Dancing hat viele Fans – und noch mehr Verächter.

Ich habe mich immer zu letzteren gezählt. Wann und wo ich den Film zuerst gesehen habe, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich bei meiner Schulfreundin Verena, die zwei ältere Schwestern hatte und medienliberale Eltern, jedenfalls habe ich bei Verena zu Hause auch „Das Schweigen der Lämmer“ gesehen. Eine der wenigen Erinnerung, die ich mit Dirty Dancing verbinde, datiert auf das Jahr 1999: „I’ve Had the Time of My Life“ war unser Abi-Lied, und das war mir ziemlich peinlich. Ich habe bei der Party in der Abi-Band gespielt, wir coverten Songs von Pearl Jam und den Smashing Pumpkins. „Time of My Life“ kam aus der Konserve. Später in der Nacht, vor allem viele Biere später, haben mein Freund Thorsten und ich auf der Wiese hinter dem Zelt versucht, die Sprungszene nachzustellen. Immer wieder riss ich ihn mit mir zu Boden. Wir hielten das für gelebte Ironie und lachten uns schlapp. Meine Haltung zum Film war klar. Dirty Dancing war Mädchenkram: flauschig, flach, überharmonisch, gefühlsduselig, rosa, einfach gestrickt, realitätsverneinend. Und ich war kein Mädchen-Mädchen.

Drei Dinge, die ich beim Lesen von „Ich hatte die Zeit meines Lebens“ gelernt und beim Sehen des Filmes bestätigt gefunden habe:

Dirty Dancing ist ein jüdischer Film. Die Geschichte spielt in den Catskills, einer Berggegend im Staat New York, die unter jüdischen New Yorkern als Ferienort beliebt ist. Caspar Battegay, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für jüdische Studien der Uni Basel, beschreibt die dortigen Ferienanlagen als „abgeschlossenes soziales System“. Hier erholte man sich unter Gleichen und verkuppelte die eigenen Kinder mit sozial passenden Partnern. Dieses Wissen potenziert die soziale Spannung in der Beziehung zwischen der jüdischen Bürgerstochter Baby und dem nicht-jüdischen Proletarier Johnny.

Dirty Dancing ist ein politischer Film. Er ist bemüht, die soziale Asymmetrie zwischen Baby und Johnny einzubetten in den Kontext der Auseinandersetzung zwischen Libertären und Sozialliberalen in den USA. In einer Szene sucht Baby die Konfrontation mit dem Medizinstudenten Robbie, der in der Ferienanlage kellnert und sich weigert, für die Abtreibung der Tänzerin Penny zu zahlen, obwohl er der Vater des Kindes ist. Robbie sagt zur Begründung: „Das Leben ist hart, aber ungerecht. Und so bin ich eben auch.“ Er reicht Baby ein Buch, dieses Mal ein reales. Es ist „The Fountainhead“, ein Roman der libertären Vordenkerin Ayn Rand, auf die sich die US-Republikaner bis heute beziehen. Babys Antwort darauf ist: „Du machst mich krank.“

Dirty Dancing ist kein Film über die romantische Liebe, sondern über Sex. Er ist ausgeleuchtet wie ein Porno: Rosa Lichtreflexe auf verschwitzten Muskeln, Körper kreisen gegeneinander, die Kamera streift unablässig Hintern und Brüste, nackte Oberkörper und Schenkel. Der Körper von Patrick Swayze wird so unbekümmert lasziv inszeniert, dass, so zitiert Hannah Pilarczyk, der Filmkritiker des „Stern“ klagte: „Noch nie wurde ein Mann im Kino derartig sexistisch vorgeführt – wie ein Stück Fleisch.“

Dirty Dancing ist natürlich trotzdem kein Kunstfilm. Er trägt dick auf. Die meisten Figuren bleiben eindimensional. Dirty Dancing schreibt dem Zuschauer seine Botschaft in neonfarbenen Blockbuchstaben auf. Doch gerade deswegen ist es erstaunlich, dass diese Botschaften bislang übersehen wurden. Und noch erstaunlicher: Millionen von Mädchen und jungen Frauen lieben Dirty Dancing. Millionen von Mädchen sind Fans eines jüdischen, politischen Softpornos. Wenn wir so radikal ändern müssen, wie wir über Dirty Dancing denken, müssen wir dann nicht auch radikal ändern, wie wir über Mädchen denken?

Was wir sehen, wenn wir Mädchen sehen, sind Stereotype: Mädchen mögen rosa Kleider, Jungs blaue Pullis. Mädchen spielen mit Barbies, Jungs mit He-Man. Mädchen wollen zum Ponyhof, Jungs Go-Cart fahren. Weibliche Teenager verfallen ihren Ski-, Musik- und Tanzlehrern, Jungs werden Ski-, Musik- und Tanzlehrer, um Mädchen abzuschleppen.

All dem kann man eine solide Verankerung in der Realität nicht absprechen. Viele Eltern, die gleichberechtigte Beziehungen führen und sich große Mühe geben, ihre Kinder jenseits von althergebrachten Geschlechterbildern zu erziehen, sind schockiert, wenn sich Mädchen und Jungs dann doch scheinbar wie von selbst in diese Schubladen einordnen. Manche Mütter sind regelrecht enttäuscht, wenn ihre Töchter sich Puppen wünschen. Doch die Enttäuschung rührt weniger aus dem Verhalten (Mädchen mögen Puppen/Dirty Dancing), als aus der Bewertung dieses Verhaltens (weil es Mädchen sind, die Puppen/Dirty Dancing mögen, sind Puppen/Dirty Dancing irgendwie zweitklassig). Vielleicht, denke ich nach der Hälfte des Films, gibt es außer Dirty Dancing noch mehr Dinge im Mädchenkosmos, die in Wahrheit weniger flauschig, flach, überharmonisch, gefühlsduselig, einfach gestrickt und realitätsverneinend sind, als wir glauben?

Nehmen wir Barbie. Die Spielzeugindustrie glaubt, dass Mädchen Barbies vor allem deshalb haben, um sie an- und ausziehen zu können. Barbie wird von Gesellschaftskritikern als Mittel gebrandmarkt, Mädchen zu geistlosen, konsumorientierten Wesen abzurichten. Nur: Auf die Barbie-Welt meiner Freundin Isabell und mir traf das nicht zu. Da wurde gemordet und gekämpft. Es war wie bei He-Men, nur in 90-60-90.

Oder der Ponyhof. Der Ponyhof ist ein Synonym für Idylle geworden. Doch Pferde kuscheln nicht gern. Pferde sind sehr große Tiere mit starkem Willen. Ein Pferd zu reiten, kostet Kraft. Pferde schwitzen und stinken. Ponyhöfe stinken. Mädchen auf Ponyhöfen stinken. Boxen ausmisten ist harte körperliche Arbeit. Im Winter friert man sich dabei die Finger ab. Und im Galopp kann man ebenso einen Geschwindigkeitsrausch bekommen wie auf der Go-Cart-Bahn.

Mit der Vorliebe von Mädchen für Tanz- und Skilehrer sind wir wieder bei Dirty Dancing. Wie Jennifer Grey als Baby im weißen Kleid durch die Nacht geistert, wie eine Kreuzung zwischen Küken und Rotkäppchen, ist sie der Inbegriff jener „unschuldigen Tochter“, die ihr Vater beschwört und die den Kern des Verführtes-Mädchen-Stereotyps ausmacht. Die Passivität der Frau gehört zu den ältesten unter den Genderklischees: die Frau als Gefäß, das angeleitet werden muss, das durch die eigene Leere anfällig wird für Manipulationen und Versuchungen. Nur: In Dirty Dancing ist es Baby, die den Tanzlehrer verführt. Sie beobachtet ihn. Sie nähert sich ihm. Sie verfolgt ihn, obwohl er sich zunächst ablehnend verhält, und stellt ihn schließlich in seinem Zimmer: Eine mittelmäßig hübsche Frau mit einer Barbra-Streisand-Nase, aber eine, die weiß, was sie will.

Mädchenhaftigkeit als Konzept, lehren uns Barbie, der Ponyhof und der Tanzlehrer, ist nicht Mädchen-inhärent. Es ist ein Urteil über Dinge, die Mädchen mögen. Eines, das selbst Mädchen, die keine Mädchen-Mädchen sein wollen, anwenden.

Vor der Schlusssequenz knicke ich ein und ziehe um auf die Couch. Vor dieser Passage graut mir: Johnny kommt zur Abschlussfeier zurück in die Ferienanlage. Er sieht Baby mit ihren Eltern. Er holt sie aus ihrer Ecke ins Rampenlicht. Die beiden tanzen. Die Hebefigur gelingt. Die Gäste und Angestellten tanzen ebenfalls. Alle mit allen, heile Welt.

Ich habe Angst, mich fremdzuschämen, und ich schäme mich wirklich. Für Johnny, der von der Bühne springt und beim Tanzen lautlos die Lippen zum Text bewegt. Aber ich schäme mich nicht für Baby. Selbst in dieser unerträglich gefühlstriefenden Szene behält sie ihre Würde. „Dirty Dancing“, sagt Hannah Pilarczyk, „ist der einzige Frauenfilm, der seine Hauptfigur gut behandelt.“ Und das wollen Millionen von Frauen immer wieder sehen.

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