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Joanne

© Ingrid Müller

28. Januar 2010: Tag 11: Kindersklaven - Verkauftes Leben

Joanne lebt im Slum mit einer Familie, zu der sie nicht gehört, für die sie arbeitet. Ohne Lohn. Kinder wie sie werden in Haiti freundlich „Restaveks“ genannt. Außerhalb von Haiti sagt man: Haussklaven. Nach dem Beben ist die Situation der Ärmsten der Armen furchtbarer denn je – und bedrohlicher.

Joanne singt. Ihre leise Stimme klingt unwirklich fein durch die Trümmer im Armenviertel Wharf Jeremie am Hafen von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Müll und Kloaken säumen hier die Wege. Auf der Hafenstraße um die Ecke schieben sich Menschen mit dicken Bündeln zum Pier, sie wollen nach Hause, nach Jacmel, acht Schiffstunden entfernt. In Port-au-Prince haben sie alles verloren.

Auch die zehnjährige Joanne ist einmal aus Jacmel gekommen, zusammen mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Michelle-Ange. Sie leben im Slum Wharf Jeremie mit einer Familie, zu der sie nicht gehören, der sie lediglich dienen sollen. In Haiti haben Kinder wie Joanne und ihre Schwester, die unter den Armen die Ärmsten sind, einen Namen: Restaveks nennt man sie, vom französischen rester avec, bei jemandem bleiben. Außerhalb von Haiti ist die Wortwahl drastischer, da sagt man: Haussklaven.

Wie viele Haussklaven es in Haiti gibt, ist nicht klar, Schätzungen reichen von 175 000 bis zu 300 000 – und das in einem Land, das 1804 als Erstes auf dem amerikanischen Kontinent die Sklaverei abgeschafft hat. Das Erdbeben vom 12. Januar hat, so fürchten Experten, die Situation in den Slums noch verschärft, denn die Familien kümmern sich in der neuen, noch elenderen Situation als Letztes um ihre Restaveks. Sollten schon die leiblichen Verwandten nicht genug zu essen haben, dann bekommen die Haussklaven, die ohnehin oft von den Resten lebten, erst recht nichts mehr. Oder sie werden ganz davongejagt, sind nun also ohne Bleibe.

Mit den heimatlos gewordenen Restaveks und den ungezählten Waisenkindern, die seit dem Beben auf Haitis Straßen leben, sind schreckliche Voraussetzungen geschaffen für schreckliche Geschäfte. Menschenhändler, heißt es, seien unterwegs, um die Kinder zu rauben, zu entführen und außer Landes zu verkaufen. Gerade hat das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen berichtet, dass 15 Kinder spurlos aus Krankenhäusern verschwunden seien – mit Menschen, die nicht mit ihnen verwandt waren. Deshalb forderte Unicef in Genf einen Stopp aller neuen Adoptionen aus Haiti. Und Premierminister Jean-Marc Bellerive hat die Kinderfrage per Radioansprache zur Chefsache gemacht. Er will von nun an jede einzelne Adoption persönlich abzeichnen, damit kein Kind verschwindet.

Pastor Luckner Guervil, der im Slum Wharf Jeremie arbeitet, kennt sich aus mit dem Kinderhandel. Erst am Vortag war er in den Bergen im Landesinneren. „Dort haben die Familien zehn oder zwölf Kinder, die können sie nicht ernähren. Da sind sie froh, wenn jemand aus Port-au-Prince kommt, ihnen einen Sack Reis dalässt und verspricht, sie zu versorgen und zur Schule schicken.“ Sein Kollege Jürgen Schübelin von der deutschen Kindernothilfe ergänzt: „Die holen Kinder, die erst fünf, sechs, sieben, acht Jahre alt sind.“ Manchmal kommen Kinder im Hafen von Wharf Jeremie auch ganz allein an. Die wissen nicht, wohin, und verdingen sich dann als Sklaven bei armen Familien. Ihre Gastmütter nennen sie „Tante“, Rechte haben sie nicht, werden geschlagen, von den Erwachsenen und auch von den Kindern der Familien. Sie schlafen nicht selten auf Matten hinterm Haus, denn in den Hütten, oft nur ein Raum, ist kein Platz für noch einen Schläfer. Viele der Restaveks sind unterernährt und unterentwickelt.

Auch Joanne muss arbeiten, von früh bis spät, ohne Bezahlung. Sie ist morgens die Erste, die aufsteht. Dann hat das zierliche Mädchen noch nicht die weißen Zopfklunker im Haar, mit denen sie am Nachmittag um die Ecke lugt. Die würden zu sehr drücken beim Wasserholen, wenn sie mit dem riesigen Kanister auf dem Kopf unterwegs ist. Mehrmals am Tag wird sie den weiten Weg zum Brunnen geschickt. Auf dem Shirt der kleinen Schwester Michelle-Ange prangt wie zum Hohn in dicken Lettern: DREAM.

Hier zwischen Wellblech und Häuschen aus Ytong-Steinen ist die Kindheit grausam. Die Sklavenkinder, zum großen Teil Mädchen, müssen auch auf die anderen neuen Geschwister aufpassen, sie müssen Geschirr und Wäsche waschen, den Boden schrubben, einkaufen, sie legen sich als Letzte schlafen. „Es gibt niemanden, wirklich niemanden vom Staat, der sich um sie kümmert“, sagt Alinx Jean Baptiste, Landeskoordinator der Kindernothilfe, der sich seit Jahren schon um die Kindersklaven kümmert, die es nicht nur in Port-au-Prince gibt, sondern in allen Städten der Insel.

An einigen Straßen werben Plakate für die Rechte der Restavek – aber in der Gesellschaft Haitis ist diese Tradition tief verwurzelt. Das macht die Arbeit schwer. Das merkt auch Jean Baptiste, wenn er versucht, die „Tanten“ zu überreden, dass sie ihre Sklavenkinder wenigstens ab und zu zur Schule gehen lassen, damit sie ein bisschen Schreiben und Lesen lernen. Dass es den Kindern doch nicht schlecht gehe, sagen die „Tanten“ dann, dass die sogar Schuhe hätten, dass man sich doch kümmere und helfe. So überzeugt sind sie davon, dass das alles rechtens ist, dass sie darüber vor laufender Kamera sprechen, auch über die Schläge, die sie austeilen, wenn Anordnungen nicht befolgt wurden.

Viele der Menschen, alte wie junge, in Wharf Jeremie sind seit dem großen Beben vom 12. Januar schwer traumatisiert. Pastor Luckner Guervil und die Kindernothilfe versuchen, wenigstens den Kindern ein bisschen zu helfen. Aber es fehlt an allem. Ein paar Buntstifte und ein paar Bälle wären schon mal ein Anfang, damit die Kinder auch einmal spielen können, um auf andere Gedanken zu kommen. Die Psychologen wollen die Kinder in Einzelgesprächen betreuen, mit den meisten werden sie danach auch in Gruppen arbeiten. Mit allen Programmen zusammen erreichen sie hier indessen höchstens ein bis zwei Prozent der notleidenden Kinder. Haitis Restavek-Problem ist in seiner Dimension gewaltig und in seiner Unbarmherzigkeit einmalig: Viele der Restavek-Mädchen würden sexuell missbraucht, wissen die Experten, infizierten sich mit HIV, das sei mit ein Grund dafür, so Kinderhilfswerk-Mann Schübelin, dass Haiti außerhalb Afrikas die höchste Aids-Infektionsrate habe.

In diesen Tagen ist Schübelin dauernd unterwegs, um Hilfe zu organisieren. Die Zeit drängt, die Kinder brauchen einen Ort. Die zerstörte Kirche von Pastor Guervil soll abgerissen werden, dann wollen sie auf dem Platz der Kapelle ein Zelt aufstellen. Später, das verspricht Schübelin dem Pastor in die Hand, werden sie auch wieder eine stabile Zuflucht für die Gemeinde bauen. Später, das ist, wenn die Nachbeben nachgelassen haben. So lange können und wollen sie aber nicht warten, um mit den Kindern zu arbeiten. Auch an anderen Stellen in der Stadt ist die Nothilfe aktiv, es gibt so viele Kinder, die das Beben zu Waisen gemacht hat. „Das endet noch in der Katastrophe“, Schübelin senkt erschöpft den Kopf. Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel.

Schübelin, Guervil und dessen Organisation Mocosad arbeiten schon länger zusammen. „Wir sind jetzt Experten im Schnorren“, sagt Schübelin sarkastisch. Er muss derzeit alle seine Hilfsgüter bei anderen Organisationen erbitten, ein 40-Tonner mit Hilfsgütern für die Kindernothilfe, die sie im Flugzeug von Düsseldorf vor nun einer Woche mitgebracht haben, ist auf der Strecke zwischen Puerto Plata und Port-au-Prince verschollen. Das US-Militär hat angeboten, bei der Suche zu helfe. Zusätzlich sollen die Deutschen Material aus den amerikanischen Lagerhäusern bekommen.

Joanne und ihre Schwester Michelle-Ange werden wohl noch einige Jahre bei ihren Familien bleiben. Mit 16, spätestens mit 18, sagt die Erfahrung, werden die Sklaven weggeschickt, oder sie laufen von allein weg. In dem Alter lassen sie sich die Ausbeutung nicht mehr gefallen.

Auch bei der Familie von Joanne und Michelle-Ange haben die Männer von der Kindernothilfe dafür geworben, dass die Mädchen in die Schule gehen dürfen. Die Arbeit daheim müssen sie trotzdem erledigen. Aber mit ein bisschen Bildung haben sie, so die Hoffnung, einen etwas besseren Start, wenn sie in den nächsten Teil ihres verpfuscht gestarteten Lebens aufbrechen.

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