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Aids: Das Virus frisst sich durch die Bevölkerung

Billige Medizin für alle, fordern sie jetzt wieder beim großen Aids-Kongress in Wien. Doch gibt es etwas, das billiger ist als jede Pille. Das ist: Wissen. Von der Mühsal der Aids-Aufklärung am Rande der Welt.

Anik Srihartini hat eine Verabredung mit ihrer Vergangenheit, wie jede Woche. Die Stufen sind steil, die Frau keucht, bleibt stehen und lehnt sich an eine Mauer. Langsam spüre sie ihr Alter, sagt sie und lacht. Ein raues Lachen, und die Falten in ihrem Gesicht zeigen, dass es das Leben nicht immer gut mit ihr gemeint hat. Noch ein paar Stufen, dann ist es geschafft. Sie blickt hinunter auf die Dächer von Tannak 1000, dem Ort der tausend Stufen. So werden sie hier genannt, die illegalen Bordelle am Rande der indonesischen Hafenstadt Jayapura in der Provinz Papua.

Es ist später Nachmittag. Vor den Puffs sitzen einige Prostituierte und warten auf Kundschaft, sie rauchen Nelkenzigaretten, flirten mit schmutzigen Männern, die vor ihnen stehen und sie mustern; Hafenarbeiter, Taxifahrer, Polizisten. Als Anik Srihartini an ihnen vorbeigeht, winken sie ihr zu, man kennt sich. Es ist Zeit zu reden, darüber, wie sie sich vor dem Tod schützen können. Denn ein Virus frisst sich durch die Bevölkerung wie eine Raupe durch ein Salatblatt.

Anik Srihartini, 49, ist seit einem Jahr Sozialarbeiterin bei der lokalen Hilfsorganisation YPKM. In ihrem alten Leben arbeitete sie selbst als Prostituierte in Tannak 1000, zwölf Jahre lang. Jetzt hat sie einen anständigen Job, der regelmäßig bezahlt wird. Wer könnte besser Bescheid wissen als sie über die Nöte der Huren?

Sie wohnt noch immer in der sechs Quadratmeter großen Bude im Erdgeschoss eines Bordells. Drei Mal in der Woche versammelt sie die Frauen und Mädchen um sich, manchmal nur eine halbe Stunde, aber oft dauern diese Gespräche den ganzen Nachmittag. Dann sitzen sie auf einer Veranda, trinken Limonade, rauchen und reden über Verhütung und Tripper, Herpes, Syphilis. In einer Umgebung, in der die meisten Menschen noch nie etwas von Geschlechtskrankheiten gehört haben – bis Anik Srihartini damit anfing. Aber vor allem sprechen sie über HIV und Aids. Dass man es bitteschön nie ohne Kondome machen soll, auch nicht, wenn die Freier dann mehr zahlen wollen. „Euer Leben ist viel mehr wert“, sagt Anik Srihartini und verteilt am Ende Kondome in den Geschmacksrichtungen Banane und Erdbeere. „Inzwischen gehen alle Frauen hier regelmäßig zum Aids-Test“, sagt sie. Darauf ist sie stolz.

Die Hilfsorganisation YPKM wurde 1993 gegründet, weil sich immer mehr Menschen mit dem HI-Virus infizierten. Gab es im Jahre 1992 ganze sechs gemeldete Fälle, sind es heute schon 4745, Tendenz steigend. YPKM bekämpft die Seuche mit dem einfachsten Rezept: Aufklärung, Vorsorge und Nachsorge.

Ein Heer von Sozialarbeitern und freiwilligen Helfern zieht durch die Städte und die Provinz, klärt Prostituierte und Straßenkinder auf, spricht mit Pastoren, Beamten, Politikern. Sie überreden zu HIV-Tests, verteilen Kondome, bilden kirchliche Mitarbeiter weiter, die gegen ungeschützten Sex predigen sollen, und beraten die lokalen Behörden. Zudem betreibt YPKM in Jayapura eine kleine Klinik und ein Hospiz, in dem Aids-Kranke medizinisch betreut und seelsorgerisch begleitet werden, wenn nichts mehr hilft.

40 Flugminuten von Tannak 1000 entfernt liegt das Pionierstädtchen Wamena, im Baliem-Tal, 10 000 Einwohner, 53 Kirchen, vier Moscheen, ein Internetcafé und ein schlecht ausgestattetes Krankenhaus. Der Ort ist so etwas wie der letzte Außenposten der Zivilisation, dahinter kommt der Urwald mit den letzten Geheimnissen Indonesiens. Touristen reisen bis hierher, um zu wandern oder um nackte alte Männer vom Stamm der Dani mit ihren Penisköchern zu fotografieren. Es ist eine Region, deren Bewohner ein lockeres Verhältnis zu Sex haben und in der Partnerwechsel die Regel sind. Und so bekam Wamena über die Jahre das gleiche Problem wie die Hafenstadt Jayapura mit ihrem Puffviertel: Aids breitet sich hier rasant aus, inzwischen sind 514 Menschen der Umgebung infiziert.

Deshalb hat YPKM vor drei Jahren eine kleine Gesundheitsstation in Wamena eröffnet, bildet freiwillige Helfer aus, die Freunde, Familien und Bekannte über Verhütung und Aids aufklären, und kümmert sich um Aids-Kranke wie Juliana, eine traditionelle Hebamme vom Volk der Dani. Die junge Frau hat sich während der Geburt eines Kindes infiziert, weil sie keine Handschuhe trug, während ihre Hände im Leib der Mutter steckten. Von Aids hatte sie nie etwas gehört, dass das Blut anderer Menschen Krankheiten überträgt auch nicht. „YPKM hat mir gezeigt, wie ich mich und andere schützen kann“, sagt die dreifache Mutter, die gerade wieder schwanger ist.

Auf einer fleckigen Matratze in einem fensterlosen Zimmer am Stadtrand von Wamena liegt abgemagert und mit Tuberkulose Edita, die 26 Jahre alt ist. Ihr gewalttätiger und alkoholkranker Mann hat sie vor zwei Jahren mit dem Virus infiziert, dann verließ er sie. Im örtlichen Krankenhaus sei sie abgewiesen worden, zu wenig Personal, keine Medikamente, keine Zeit, erzählt sie. Und dass man ihr gesagt habe, sie möge zum Sterben bitte woanders hingehen.

Drei Mal die Woche schaut Josefine Wenda bei ihr vorbei. Seit Wochen päppelt die Krankenschwester von YPKM Edita mit Bananen, Süßkartoffeln, Reis, Milch und Fisch auf. Bringt ihr die Medikamente gegen die Tuberkulose und den Pilzbefall im Mund vorbei und manchmal kochen die beiden Frauen noch gemeinsam, aber „inzwischen ist Edita wieder so weit bei Kräften, dass sie ganz gut alleine zurechtkommt. Sogar ihre Haare wachsen inzwischen wieder nach“, sagt Josefine Wenda, und dann kichern die beiden Frauen. „Vor ein paar Monaten glaubten wir, dass sie es nicht schaffen wird.“

So weit war die Krankheit schon fortgeschritten. Im Januar flogen Edita und Josefine gemeinsam nach Jayapura. YPKM bezahlte die Reise, damit Edita im Krankenhaus untersucht wird und endlich die antiretroviralen Aids-Medikamente erhält, die kostenlos von der indonesischen Regierung zur Verfügung stellt werden. „Wir haben Edita gerettet“, sagt Josefine Wenda, „also können wir jeden retten.“

Und so wurde es auch gerade wieder gesagt auf der großen Welt-Aids-Konferenz in Wien, wo noch bis morgen 20 000 Ärzte, Forscher und Politiker Konzepte und Strategien für die Behandlung der Kranken vorstellen. Billige, schnelle Therapien fordern sie alle. Der universelle Medikamentenzugang bleibe „ein Kampf für Gerechtigkeit“, hat Michel Sidibé, der Direktor des UN-Aids-Programms zum Kongresseröffnung gesagt. Aber wo den beginnen?

John Maurids Suebus ist sei drei Jahren der Leiter von YPKM in Wamena. Er ist Experte in Sachen Aids, sein Bruder starb daran. Jetzt durchstreift er für die Organisation die Rotlichtmilieus in und um Wamena, die Orte, an denen sich die Menschen zumeist infizieren. Er betritt einen dunklen Raum, den ein Schild als Restaurant ausweist, es ist neun Uhr am Morgen. Manchmal springen Gäste auf, wenn sie Suebus sehen und machen sich eilends davon. Das Restaurant ist ein Bordell. Auf einer fleckigen Matratze sitzen zwei Mädchen. Tina und Lea, beide 16 Jahre alt. Sie wohnen und arbeiten in einer Hütte ohne Fenster, teilen sich die Matratze. An den Wänden schimmeln alte Zeitungen, die als Tapete dienen. Suebus lächelt sie an. Auf einem Schemel sitzt Titin, die Puffmutter, mit Narben auf den Unterarmen. Suebus fragt, ob er sich kurz mit ihnen unterhalten dürfe.

Zaghaftes Nicken.

– Habt ihr Kondome?

Nicken, diesmal ein bisschen kräftiger. Titin geht in eine Kammer und kommt mit einem Plastikbeutel mit Kondomen zurück. Sehr gut. Ein Anfang.

– Benutzt ihr sie auch?

Schweigen. Titin sagt, dass sie es nie ohne Kondom mache. Was die beiden Mädchen tun, wisse sie nicht. „Das ist nicht meine Angelegenheit.“ Lea und Tina zucken mit den Schultern. „Meistens ohne“, sagt Lea, weil die Kunden es so wollen. Kondome sind nicht gut fürs Geschäft. Damit hat Suebus gerechnet. Die meisten Männer in Wamena weigern sich, Kondome zu benutzen, zu kompliziert, weil sie es nicht besser wissen oder meinen, dass Gott es nicht gerne sieht. „Viele haben schon von Aids gehört, aber glauben, dass es sie nicht treffen kann“, sagt Suebus. „Erst als auch in der Provinz Leute starben, fingen sie an, sich zu interessieren, und sagten ‚John, hilf mir. John, mach mich gesund‘.“ Suebus seufzt und setzt sich zu den Mädchen auf die Matratze.

Warum zwei 16-Jährige im Hinterhof der Zivilisation ihre Körper für 70 000 Rupien, umgerechnet fünf Euro, an Männer verkaufen, die ihre Väter sein könnten, will er nicht wissen. Daran kann er ohnehin nichts ändern. Ob sie denn wüssten, was HIV und Aids seien und wie man Kondome benutze? Schweigen, Lea kichert verlegen.

Dann drückt Suebus den beiden ein Kondom in die Hand, nimmt einen Hammer, der in der Ecke des Zimmers liegt, setzt sich auf einen Schemel, und hält sich das Werkzeug so in den Schritt, dass der Stiel wie ein erigierter Penis auf die Mädchen zeigt. Während die Mädchen üben, erzählt Suebus von HIV und Aids, und wie man sich ansteckt.

Mehr als eine Stunde redet er mit den Mädchen, in dieser Zeit kommen fünf Kunden vorbei und fragen nach Lea und Tina. Titin, die Puffmutter, wimmelt sie ab. Sie mögen doch später wiederkommen. Suebus sagt, dass sie ihn jederzeit in seinem Büro besuchen kommen können. „Wenn ihr Fragen habt oder Kondome benötigt. Umsonst, natürlich!“

Bevor er geht, drückt er den drei Frauen noch jeweils 100 000 Rupien in die Hand, wegen des Verdienstausfalls. Sie sollen keinen Nachteil haben, wenn sie sich informieren, sagt Suebus. „Und kommende Woche machen wir einen Aids-Test, ja?“ Die Mädchen nicken und schweigen.

Dann schiebt sich John Suebus an den wartenden Freiern vorbei und macht sich auf dem Weg zum nächsten Bordell.

Carsten Stormer

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