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Alltag in Tokio: Die Furcht weht Japan an

Trotz der Widrigkeiten und der drohenden Katastrophe scheint der Alltag in Tokio weiterzugehen. Die meisten Japaner bleiben – auch wenn sie vielleicht Angst haben. Ausländer hingegen flüchten in den Süden des Landes.

„Die Sonne scheint.“ Angela Ichikawa genießt den Ausblick auf den Vulkan Fuji von ihrem Balkon im 31. Stockwerk eines Tokioter Hauses. „Mein Mann hat mich aus dem Wohnzimmer gefragt, wie der Wind steht. Er steht gut, es sieht gut für uns aus, weil wir so nicht verstrahlt werden“, erzählt die 54-jährige Deutsche am Telefon. Sie ist mit einem Japaner verheiratet. Wie immer sei ihr Mann am Morgen zur Arbeit gegangen. Aus Tokio weggehen? Das kommt für beide nicht in- frage. Vor 17 Jahren sei sie mit ihrem heute 66-jährigen Mann nach Tokio gezogen. Für ihn als Japaner stehe fest, bleiben zu wollen. „Er schlug mir vor, dass ich nach Deutschland fliegen solle – auch ein paar Nachbarn fragten mich, warum ich als Deutsche nicht gehen würde. Aber ich lasse meinen Mann hier nicht alleine.“

Angela Ichikawa ist guter Dinge. Die Situation sieht sie entspannter als viele andere in Tokio. „Ich wundere mich, warum viele Menschen hier die Regale leer gekauft haben. Wir können uns sicher sein, dass aus dem Süden genug nachgeliefert wird und den Menschen im Norden geht es viel schlimmer als uns“, sagt sie. Die Versorgungslage in Tokio käme auch auf die Wohnlage an, sagt sie. Sie wohnten in der Stadtmitte, wo sie mehre Möglichkeiten zum Einkaufen hätten. Doch auch dort sei vieles leer geräumt.

Die Tokioter befinden sich in einem ständigen Alltagskampf. Im Supermarkt sind Eier, Reis, Brot und Milch knapp, es gibt oft keine Damenbinden und Windeln. Auch Klopapier und Trockennudeln fehlen. Das Benzin ist knapp, die Züge sind überfüllt und fahren seltener, weil Strom gespart werden muss und am Donnerstagmorgen machten auch kaputte Geldautomaten den Bewohnern Tokios zu schaffen. Zudem warnte die japanische Regierung vor einem Stromausfall im Großraum Tokio, wenn die Unternehmen und die Bürger ihren Verbrauch nicht deutlich reduzieren würden. Die Agenturen berichten, in mehreren Regionen im Osten des Landes werde regelmäßig für mehrere Stunden der Strom abgeschaltet.

Die Furcht weht Japan an. Doch trotz der Widrigkeiten und der drohenden Katastrophe scheint der Alltag in Tokio weiterzugehen. Und die meisten Japaner bleiben – auch wenn sie vielleicht Angst haben. „Viele Ausländer verlassen das Land oder ziehen in die südlichen Städte. Es sind aber weniger die Japaner, die gehen“, erzählt der Deutsche Masaki Schmidt am Telefon. Er lebt eigentlich in Tokio. Auch in den japanischen Medien läge der Fokus mehr auf den flüchtenden Ausländern als auf abwandernden Einheimischen. Der 28-Jährige sagt, er sei nur auf Druck seiner japanischen Mutter und seines deutschen Vaters vorübergehend zu seiner Großmutter nach Kyoto gezogen.

Freunde, Familie und eine innere Verpflichtung, nicht einfach gehen zu können – das ist ein Grund, warum zahlreiche Menschen in Städten wie Tokio an ihrem vertrauten Leben festhalten und nicht gehen wollen. Bei vielen kommt das Gefühl hinzu, sich nicht beschweren zu dürfen, weil die Menschen an der von Erdbeben und Tsunami zerstörten Nordostküste viel schlechter dran sind. Eine große Rolle spielen aber auch Stolz, Treue und Pflichtbewusstsein gegenüber der Firma, der Gesellschaft und dem eigenen Land. Eine junge Deutsch-Japanerin schreibt auf Facebook, wie sich die japanischen Mitarbeiter ihres deutschen Vaters gefühlt haben müssen, als er ihnen verkündete, nun auch ausreisen zu wollen. „,Jetzt lässt du Japan im Stich?’ Ich glaube, so haben sie sich gefühlt.“

Auch Masaki Schmidt fühlt sich verpflichtet: „Ich will nicht sagen, dass ich in meiner Firma benötigt werde. Aber für Ausländer ist es einfacher zu sagen, ich haue ab. Aber ich habe hier Familie und Freunde. Das ist viel schwieriger.“

Mittlerweile komme ein großer Strom von Menschen, hauptsächlich Ausländer, aber auch ein paar Einheimische, aus Tokio nach Kyoto, mailt der Deutsche Martin Hirsch, der mit seiner japanischen Lebensgefährtin Asami Kurasawa eigentlich in Tokio lebt. „Am Mittwoch habe ich sogar einen Bekannten in der Lobby getroffen.“ Dreimal hätten er und seine Freundin inzwischen das Hotel wechseln müssen, weil es ausgebucht gewesen sei. Doch hätten sie bei ihrer Ankunft am Montagmorgen noch nicht gewusst, wie lange sie hätten bleiben wollen. Die Mutter seiner Freundin habe hingegen in Tokio bleiben wollen, weil sie nicht an eine nukleare Katastrophe glaube und Wache am Telefon habe halten wollen. „Eine ihrer Schwestern und deren Mann, die in der vom Tsunami verwüsteten Stadt Rikuzentakata lebten, werden immer noch vermisst.“ Problematisch sei, dass der Mutter die Lebensmittel ausgingen. Deshalb hatten sie ihr am Mittwoch zwei Kisten mit Essen schicken wollen. „Aber wir haben erfahren, dass das zehn Tage dauern würde. Daher wollen wir am Wochenende zurückfahren und ihr Sachen aus Kyoto vorbeibringen.“

In der Stadt im Süden des Landes sei alles wie immer, erzählt Masaki Schmidt am Telefon. Am Morgen sei er ein paar Kleidungsstücke einkaufen gegangen, weil er nicht genügend aus Tokio mitgebracht habe. Mit seinem Smartphone sei er jedoch ständig online, um sich zu informieren – hauptsächlich auf japanischen Seiten. „Irgendwie surreal: Ich bin in Kyoto. Da ist alles in Ordnung und ein paar hundert Kilometer entfernt ist ein Chaos mit vielen tausend Toten und alten Menschen, die irgendwo erfrieren.“ Einerseits sei da die Sorge, aber irgendwie auch die Gewöhnung an den Zustand. „Es wird nicht schlechter, aber auch nicht besser und wirklich passieren tut nichts“, sagt der 28-Jährige.

Die ersten Tage sei er einfach nur angespannt gewesen. „Diesen Stress kann die Seele aber auf Dauer nicht ertragen.“ Und da in Kyoto alles normal sei, falle es ihm leichter, sich abzulenken. Über Facebook und seine Freunde am Telefon werde er aber über die Situation in Tokio informiert. Die Einträge auf dem japanischen Facebook „Mixi“ seien ihm hingegen zu emotional. „Viele deutsche Medien schreiben, dass die Japaner die Situation einfach nur gelassen nehmen. Tatsache ist: dass sie vielleicht nicht in Panik weglaufen, aber sie verhalten sich anders als sonst. Sie sind angespannt – und wer sie kennt, merkt es ihnen auch an.“

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