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Die Alten sind heute so jung wie noch nie in der Geschichte der Menschheit.

© Gerd Ludwig / Visum

Alter: Der Methusalem-Komplex

Rente mit 67? Rente mit 87! Oma und Opa heißen jetzt "Woopies", und ihre Pflege ist ein lukratives Geschäft. Über die Zukunft des Alterns.

Er war gerade 187 Jahre alt geworden, da zeugte er einen Sohn. Es scheint eine glückliche Vaterschaft gewesen zu sein. Denn von nun an lebte er lustig weiter – und zwar ganze 782 Jahre. Wurde insgesamt also 969. So alt wie kein anderer vor ihm oder nach ihm. Er hieß Methusalem.

Dabei hätte ihm sein Enkel diesen Rang beinahe streitig gemacht. Er hieß Noah, baute eine Arche und brachte es auf immerhin 950 Jahre. Es muss wohl an den Genen gelegen haben in dieser Familie.

Seit jeher haben die biblischen Altersangaben Rätsel aufgegeben. Weiß man doch, dass die Lebenserwartung zu früheren Zeiten eher gering war, dass die Menschen in aller Regel kaum ihren 40. Geburtstag erlebten und Hochaltrigkeit ein Ergebnis modernerer Zeiten ist. Was ist also wahr?

Nichts davon – das eine nicht und das andere nicht.

Erstens muss man bekanntlich nicht alles wörtlich nehmen, was in der Bibel steht. Methusalems 969 Jahre sind vermutlich einer Verwechslung von Jahren und Monaten geschuldet. Teilt man die biblischen Altersangaben nämlich durch zwölf, so wäre Methusalem mit 16 Vater geworden und mit 80 gestorben. Das wäre nicht nur denkbar, sondern es würde auch ein Licht auf einen anderen Irrtum werfen: Dass Menschen zu früheren Zeiten 80 Jahre alt wurden, war zwar keineswegs häufig, aber auch keine Seltenheit. Denn die Zahlen über die geringe Lebenserwartung sind Durchschnittszahlen und hängen damit zusammen, dass in die Statistik immer auch die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit Eingang finden. Die Wahrheit ist: Wer es schaffte, seine ersten zehn Jahre zu überstehen, hatte gute Chancen, 60, 70 oder 80 zu werden – jedenfalls als Mann; bei den Frauen sah es wegen des hohen Risikos bei den Geburten ein wenig anders aus.

So war es über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg, und nichts bezeugt diese Gewissheit über den ewigen Kreislauf der Lebenszeiten besser als der Volksmund, der davon ein Lied zu singen weiß:

10 Jahr ein Kind,

20 Jahr ein Jüngling,

30 Jahr ein Mann,

40 Jahr stille stahn,

50 Jahr geht Alter an

60 Jahr ist wohlgetan,

70 Jahr ein Greis,

80 Jahr schneeweiß,

90 Jahr der Kinder Spott,

100 Jahr gnad’ dir Gott.

So war das, so war das immer. So ist es nicht mehr. Seit einigen Jahrzehnten vollzieht sich ein Prozess, der alle Gewissheiten auf den Kopf stellt. Die Alterung der Gesellschaft, jedenfalls in den „entwickelten“ Industriestaaten, schreitet mit einer Rasanz voran, die noch vor kurzem niemand für möglich gehalten hätte. Die Fortschritte der Medizin – man ist sich seines Todes nicht mehr sicher –, veränderte Lebens- wie Ernährungsgewohnheiten, Hygienestandards und zunehmender Wohlstand haben die Lebenserwartung in Höhen schießen lassen, von denen früher höchstens geträumt werden konnte. Die demografische Entwicklung führt zu einer gesellschaftlichen Umwälzung, die die Grundfesten des Alltags erschüttert und von der der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss einmal gesagt hat, im Vergleich dazu sei der Zusammenbruch des Kommunismus „unwichtig“.

Vermutlich ist das nicht übertrieben. Denn die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Mitte des 21. Jahrhunderts wird jeder Dritte in Deutschland älter als 65 sein; die durchschnittliche Lebenserwartung wird für Frauen bei 84,5, für Männer bei 80,5 Jahren liegen. Die durchschnittliche! In der Spitze sieht es noch eindrucksvoller aus. Die 80- und 90-Jährigen werden den am schnellsten wachsenden Teil der Bevölkerung stellen. Heute sind 3,8 Prozent der Deutschen älter als 80 Jahre. In der Jahrhundertmitte werden es 11,3 Prozent sein. Das ist eine Explosion. Und sie wird so schnell nicht aufhören. Sollte es medizinische Durchbrüche etwa im Kampf gegen Krebs oder Herz- Kreislauf-Erkrankungen geben, könnten die Zahlen weiter in die Höhe schnellen. „Eine Obergrenze der Lebenserwartung ist nicht in Sicht“, sagt das Statistische Bundesamt.

Die Demografen sprechen von einer „Alterung von oben“. Es gibt aber auch das Gegenteil, die „Alterung von unten“: Es werden immer weniger Kinder geboren. Deutschland schrumpft. Um 200 000 Menschen jedes Jahr. Und die Geschwindigkeit dieses Prozesses nimmt zu. Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerung in Deutschland um mindestens zwölf Millionen abnehmen. In den Nachbarländern sieht es kaum anders aus. In Europa wird die Durchschnittszahl von 2,1 Kindern pro Frau, die vonnöten ist, damit die Bevölkerungszahl konstant bleibt, nur in Irland erreicht, gefolgt von Frankreich mit 2,02 Kindern. Schlusslichter sind die meisten osteuropäischen Staaten, auch Deutschland liegt mit 1,38 ziemlich am Ende der Tabelle.

Ganz Europa wird ein Altersheim.

Immer mehr Alte, immer weniger Junge. Das hat ungeheure Folgen. Nicht nur für die Rentenkassen. Sondern für die gesamte soziale Struktur. Die Alten, ihre Interessen, Bedürfnisse und Gewohnheiten werden die Gesellschaft dominieren. Eine Altenkultur ist im Entstehen, wie es sie in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat.

Schon jetzt sind die Zeichen nicht zu übersehen. Alte von heute sind mit den Alten von gestern nicht zu vergleichen. 65-Jährige leben inzwischen wie die 45-Jährigen von früher. Sitzen nicht mehr grau in der Ecke und verzehren ihr Gnadenbrot. Sondern stehen mitten im Leben, kleiden sich wie die Jungen, hören ihre Musik, treiben Sport, erfüllen sich Wünsche, die ihnen das Arbeitsleben versagte, unternehmen Reisen, sind gesund und fit – und haben Zeit. Kein Wecker reißt sie morgens aus dem Schlaf, kein Chef schikaniert, kein Termin drängt, und die Kinder sind auch längst aus dem Haus. Das Leben ist eine neue Freiheit und eine nie gekannte Freizeit.

Die Alten sind jung wie nie. Lassen sich auf ihre späten Tage in kommunale Parlamente wählen, engagieren sich in Ehrenämtern, in freiwilligen Tätigkeiten als Pflegerinnen und Pfleger, in der Kinderbetreuung, als Organisatoren in Vereinen und Kirchen. Sie tun das nicht, weil sie müssen, sondern weil sie möchten. So viel Selbstbestimmung war nie. Selbst Sexualität im Alter hat die Aura des Peinlichen und Heimlichen verloren. Viagra und Cialis machen Pharmakonzerne reich, das Kino entdeckt den späten Sex: „Wolke 9“ von Andreas Dresen, „Was das Herz begehrt“ mit Jack Nicholson, 66, und Diane Keaton, 58; „Pippa Lee“ erzählt die Liebesgeschichte zwischen einem 80-Jährigen und einer 50-Jährigen; Meryl Streep („Wenn Liebe so einfach wäre“), auch schon 60, ist zwischen zwei älteren Herren hin- und hergerissen. Mario Adorf, in ein paar Tagen feiert er seinen 80. Geburtstag, lässt sich neben seiner leicht bekleideten Ehefrau am Strand ablichten. Der Fernsehsender Arte widmet dem Altensex einen ganzen Themenabend. Jugendwahn wird Alterswahn.

Gewonnene Jahre. Wer die 60 überschritten hat, hat heute noch ein Viertel seines Lebens vor sich, oft auch mehr. Ein uralter Menschheitstraum scheint Realität geworden zu sein. Alt werden, ohne zu altern. Die Weisheit des Alters erfahren und die Jugendlichkeit des Körpers bewahren. Die mittelalterliche Utopie des Jungbrunnens, in die die greisenhaften Leiber tauchen und ihm wundersam verjüngt wieder entsteigen, verspricht, Wirklichkeit zu werden.

Kein Wunder, dass die Werbung sie längst entdeckt hat, die rüstigen Alten, eine kaufkräftige Konsumentenschicht. Einen Namen haben sie auch schon bekommen: „Woopies“ (Well-Off Older Persons). Immer mehr gut erhaltene Körper und nur spärlich gefaltete Gesichter verheißen auf Plakatwänden, dass das Leben jetzt erst richtig anfängt. Die Wirtschaft – „Silver Economy“ – stellt sich auf die neuen Kunden ein, bietet Produkte und Dienstleistungen für die Best Ager. Die Gesellschaft für Gerontotechnik in Iserlohn vergibt für seniorengerechte Geräte und Hilfsmittel das Gütesiegel „GGT-geprüft“. Selbst das Wort „Senioren“ beginnt mittlerweile alt auszusehen, weshalb plötzlich das Kunstwort „Medioren“ regiert: Es sind doch erst die mittleren Jahre!

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Und die Wissenschaft zieht nach. Die herkömmliche Einteilung des Lebens in drei Abschnitte – Kindheit, Berufszeit, Alter – hat ausgedient. Die späten Jahre werden in zwei neue Segmente gespalten: drittes und viertes Alter.

Viertes Alter! Es sind jene beiden Wörter, bei denen der Vorhang fällt über die Welt der rüstigen Altersgenießer und sich eine neue Szenerie auftut. Denn die steigende Lebenserwartung hat ihren Preis. Es ist ein hoher Preis. Denn immer älter werden heißt zugleich: immer länger alt sein. Und die Fortschritte der Medizin vermögen es meist nicht, die Phase der Hochaltrigkeit, die statistisch etwa ab dem 80. Lebensjahr beginnt, in eine Glücksphase zu verwandeln. Die Verheißung des längeren Lebens wird zu einer Verheißung des Leidens, einer Zeit der Krankheiten, Schmerzen, einer Zeit des erhöhten Sterberisikos. Das eine bedingt das andere. Die Verlängerung der Lebenserwartung führt dazu, dass mehr Jahre in der Nähe des Todes verbracht werden, als das früher jemals der Fall war.

Auch hierfür gibt es Zahlen. Bis zum 60. Lebensjahr liegt das statistische Pflegefall-Risiko unter einem Prozent. Auch bis zum 70. Geburtstag ist die Gefahr sehr gering, Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sprechen von 2,1 Prozent. Dann aber, mit Beginn des „vierten Alters“, steigen die Zahlen massiv an. Zwischen 80 und 85 sind schon 20 Prozent pflegebedürftig, zwischen 85 und 90 sind es 33 Prozent, und bei den über 90-Jährigen liegt die Zahl der Pflegefälle bei 58 Prozent. Noch erheblich höher sind die Steigerungsraten bei Demenzerkrankungen.

Was früher die Ausnahme war, weil die Menschen meist starben, ehe sie pflegebedürftig wurden, wird in den kommenden Jahrzehnten beinahe die Regel sein. Im Altenbericht der Bundesregierung heißt es, erstmals in der Geschichte sei Pflege „zu einem erwartbaren Regelfall des Familienzyklus“ geworden.

Auch hier hat sich das Bild des Alters in wenigen Jahren grundsätzlich gewandelt. Noch 1995, in dem Jahr, als der damalige Sozialminister Norbert Blüm sein „Jahrhundertwerk“, die Pflegeversicherung, aus der Taufe hob, erwartete er, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den folgenden zwei Jahrzehnten auf 1,9 Millionen steigen würde. Was für ein Irrtum! Bereits nach sieben Jahren war diese Zahl erreicht. 2004 war dann die Grenze von zwei Millionen überschritten. 2020 werden es 2,9 Millionen sein, und die Prognosen für die Jahrhundertmitte schwanken zwischen 3,7 und 4,7 Millionen. Wer all diese Menschen dann pflegen soll, wird eine der großen sozialen Fragen der Zukunft sein. Schon heute ist die Pflege in Deutschland der größte Wirtschaftssektor, hunderttausende zusätzliche Arbeitskräfte werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gebraucht. Politische Konzepte, wie diese gigantische Aufgabe bewältigt werden könnte, gibt es bisher nicht einmal in Umrissen.

Krankheiten und Schmerzen sind indessen nur ein Teil der Wahrheit über die Hochaltrigkeit. Der andere heißt Einsamkeit. Die meisten Menschen haben in dieser Lebensphase den Tod naher Angehöriger zu verkraften, des Ehemanns, der Ehefrau. Gut 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland leben allein, bei den über 85-Jährigen sind es 75 Prozent. Meist bleiben, da sie länger leben, die Frauen übrig. Etwa 80 Prozent der Patienten in Pflegeheimen sind weiblich.

Ohnehin stellen sich der weibliche und männliche Alterungsprozess völlig verschieden dar. Das beginnt schon damit, dass die Benimmregeln vorschreiben, Frauen nicht nach ihrem Alter zu fragen, wenn sie in die Jahre gekommen sind. Sie bleiben alterslos, weil das Alter ihre öffentliche Wertschätzung definiert. „Alter“, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer, „ist für Frauen ein Makel.“ Das zeige sich schon bei der Kleidung. „Ein 70-jähriger Aufsichtsrat trägt denselben Anzug, den er als Geschäftsführer von 40 trug. Frauen hingegen unterliegen, wenn sie älter werden, einer regelrechten Beschneidung; alles, was reizvoll sein könnte, wird gekürzt: die Haare werden geschnitten, die Absätze erniedrigt, der Ausschnitt verkleinert, die Beine bedeckt.“ Verstößt eine Frau gegen diesen Kleiderkodex, wird sie als unwürdige Greisin wahrgenommen. Es gibt keine welke Venus.

Nicht nur die Geschlechterunterschiede verändern das Alter, auch die Einkommensunterschiede. Alter hatte in allen geschichtlichen Perioden viel mit den ökonomischen Verhältnissen zu tun. Wer Geld hat, lebt länger. Kann sich bessere Pflege, eine intensivere medizinische Betreuung, gesündere Ernährung leisten. Alt werden in Würde war schon immer eine Frage des Geldbeutels. Es zählt zu den großen Mythen über das Altern, dass das zu anderen Zeiten anders gewesen wäre. Früher, so erzählen diese Mythen, hätten die Alten im Schoß der Großfamilie ihren Lebensabend verbracht, geachtet und geschätzt ob ihrer Erfahrung und Weisheit. Gerade ganz früher, in der Antike sei das so gewesen. Nicht umsonst hieß das Gremium, das zum Beispiel die Geschicke der römischen Republik bestimmt, Senat, Versammlung der Älteren.

In der Realität sah es meist anders aus. Dass die Alten früher besonders geachtete Personen waren, ist eher eine Verklärung neuerer Tage. Mochten Personen von Stand auch das Hohelied des Alters singen wie etwa Seneca oder Cicero („Der alte Mann ist von Natur aus Philosoph“), für die meisten anderen und die weniger Begüterten zumal war der Lebensabend eine Zeit voller Düsternis. Wer keine Rücklagen hatte, den erwartete bittere Armut. Zu allen Zeiten ist bezeugt, dass die Alten wenig galten, dass die Jungen sie als Klotz am Bein empfanden und insgeheim wünschten, sie möchten doch recht bald das Zeitliche segnen.

Selbst von Gewalt gegen Alte ist immer wieder die Rede. Auch in Deutschland, zum Beispiel in Brandenburg. Da hingen im 18. Jahrhundert an den Toren einiger Städte große Holzkeulen. Sie trugen die Inschrift: „Wer sich vom Brot seiner Kinder abhängig macht, soll mit dieser Keule erschlagen werden.“

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