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„Nur ein Idiot würde auf den Gehweg fahren, um einen Schulbus zu überholen.“ - Genau das hat Shena Hardin aber getan. Das Schild ist ihre Strafe.

© dapd

Am Pranger: US-Justiz setzt vermehrt auf "kreative Urteile"

Shena Hardin muss sich in aller Öffentlichkeit zu ihren Verkehrssünden bekennen. Kein Einzelfall: Immer öfter verdonnern US-Richter die Deliquenten zu unkonventionellen, pranger-ähnlichen Strafen. "Shaming punishment" nennt sich das und ist eigentlich eine Notlösung.

Das Bild zur Szene ist inzwischen bekannt. Man sieht Shena Hardin, eine 32-jährige Frau. Sie steht an einer Straße in Cleveland, im US-Bundesstaat Ohio, neben einem großen Schild. Darauf steht: „Nur ein Idiot würde auf den Gehweg fahren, um einen Schulbus zu überholen.“ Genau das hatte Hardin mehrmals getan, war dabei gefilmt, später angeklagt und verurteilt worden.

Pinkey Carr, die Richterin, zeigte sich „kreativ“. Als Strafe verhängte sie neben dem Führerscheinentzug die Auflage, dass Hardin zweimal eine Stunde lang neben diesem Schild posiert. Weil Hardin beim ersten Mal dabei demonstrativ simste und rauchte, wurde ihr für die zweite Stunde zusätzlich Rauchverbot erteilt. Außerdem musste sie das Schild besonders hoch halten. „Sie kapiert es einfach nicht“, schimpfte die Richterin.

Zwei Begriffe sind wichtig, um einen solchen Schuldspruch zu verstehen. Der erste heißt „creative sentencing“. Amerikas Gefängnisse sind voll, einige überfüllt, außerdem sind sie teuer, jede Haftstrafe belastet den Haushalt und damit die Steuerzahler. Vor diesem Hintergrund hatte der Oberste Gerichtshof in den USA im Jahre 2004 die Richter des Landes dazu aufgefordert, undogmatisch und phantasievoll zu urteilen. Wann immer möglich, möge die Strafe nicht in einen Gefängnisaufenthalt münden, sondern solle auf andere Weise in abschreckender und vergeltender Relation zur Missetat des Delinquenten stehen.

Seitdem nehmen derart „kreative“ Urteile zu. In Georgia kommt ein Drogenabhängiger vorzeitig aus dem Knast, weil er verspricht, sich einen Sarg zu kaufen und in sein Wohnzimmer zu stellen, was ihn auf ewig an die Konsequenzen seiner Abhängigkeit ermahnen soll. In Amherst muss sich ein Student der „University of Massachusetts“, der eine Toga-Party organisiert hatte, die aus dem Ruder gelaufen war, in seiner Toga-Verkleidung eine Stunde lang vor das Polizeihauptquartier stellen. In Texas wird ein Mann, der sein Kind misshandelt und unter anderem dazu gezwungen hatte, in der Hundehütte zu schlafen, dazu verurteilt, 30 Nächte hintereinander in eben jener Hundehütte zu übernachten. Und in Painesville, Ohio, muss eine Frau eine ganze Nacht lang alleine in einem Wald ausharren, weil sie genau dort 35 Kätzchen ausgesetzt hatte.

Der zweite Begriff, der solche Strafen erklärt, heißt „shaming punishments“. Durch vorübergehende öffentliche Entehrung und Entwürdigung, so die Idee,  soll der Straftäter zur Einsicht gelangen und das Volk abgeschreckt werden. Einer der prominentesten Verfechter dieser Art von Pranger-Strafe, bei der im Unterschied zum mittelalterlichen Pranger der Delinquent natürlich keinen physischen Schmerz erleiden darf, ist der Soziologe Amitai Etzioni von der „George Washington University“. Geldstrafen, sagt er, seien anonyme, unsoziale Absolutionsformen, weil sie Arme härter treffen als Reiche. Im Gegensatz dazu würden durch die öffentliche Zurschaustellung eines Übeltäters sowohl die von diesem verletzten Rechtsgrundsätze verteidigt als auch durch die Macht der Scham andere von deren Verletzung abgehalten.

In Amerika kommt solche Logik an. Richter, die Schandurteile verhängen, können sogar berühmt werden. Wie Joe Brown aus Memphis, der etwa Raubopfern erlaubte, sich aus den Häusern der Diebe etwas mitzunehmen, was denselben Wert hat wie das Gestohlene. Brown bekam eine eigene Fernsehshow. Oder Lloyd „Ted“ Poe aus Texas, „The King of Shame“, der die Entehrung auch als Mittel pries, die Arroganz der Straftäter zu brechen und sein Rechtsverständnis „Poe-tic Justice“ nannte. Seit 2004 sitzt der Republikaner im amerikanischen Repräsentantenhaus.

Laut US-Verfassung sind „cruel and unusual punishments“ verboten. Doch Entehrungen gelten nach oberster Rechtsauffassung nicht als grausam. Überhaupt unterscheidet sich das amerikanische Rechtsverständnis vom deutschen fundamental. Nicht ein schriftlich fixiertes, der abstrakten Römischen Tradition entlehntes Gelehrtenrecht, das man studiert haben muss, um es richtig anwenden zu können, wird in den USA praktiziert, sondern ein durch Präzedenzfälle und Erfahrung geprägtes Gewohnheitsrecht. Oft befindet allein eine Jury, die aus Laien besteht, über Schuld und Unschuld des Angeklagten. Das bindet das Rechtsverständnis sehr stark an das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden. Was Recht ist, muss sich auch gerecht anfühlen. Das öffnet den Raum für Vergeltungskriterien, was wiederum in Deutschland als archaisch betrachtet wird.

Ob Schandurteile tatsächlich abschrecken, weiß keiner. Am wirksamsten scheinen sie in Bezug auf Firmen zu sein, die einen Ruf zu verlieren haben. In Massachusetts hatte ein Fähren-Unternehmen die Toilettenabfälle direkt ins Wasser gespült. Ein Richter verurteilte es dazu, eine Anzeige im „Boston Herald“ zu schalten mit den Worten: „Unser Unternehmen hat menschliche Abfälle direkt in die Gewässer von Massachusetts geleitet.“

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