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Amerikas Traditionstanz: Amerika tanzt linientreu

Am 4. Juli feiern die USA ihre Unabhängigkeit. Dann tanzt das ganze Land – Alt, Jung, links und rechts. Line Dancing verbindet sie alle, und wo könnte man das besser lernen als in Nashville. Ein Selbstversuch.

Draußen, in den Straßen von Nashville, ballt sich die unerwartete Hitze eines Frühlingstages. Doch hinter den geschlossenen Glastüren des Wildhorse Saloons ist es kalt wie in einem Bierglas. Ich stehe auf der Tanzfläche, neben mir wippt Reg Warren, ein Geschäftsmann aus Boston, ungeduldig auf und ab. Die Musik macht gerade Pause, still ist es trotzdem nicht. Die dreigeschossige Tanzhalle ist gut besucht. Die Gespräche der Gäste an den Tischen und der Bar mischen sich mit den Rufen der Barkeeper, dem Klappern von Billardkugeln aus dem ersten Stock und Küchengeräuschen. Ein bisschen doof komme ich mir plötzlich vor, als Tourist an einem Dienstagabend in Nashville, Tennessee, Country Line Dancing lernen zu wollen. Doch ein Familienvater hinter mir, den seine beiden Teenagertöchter auf die Tanzfläche geschoben haben, nickt mir ermutigend zu.

„Harte Männer tanzen nicht“, behauptet eine Story von Norman Mailer. Aber vielleicht kannte der Schriftsteller auch einfach nur keinen anständigen Line Dancing Saloon. Line Dancing, so meine Annahme, ist schließlich so uramerikanisch wie Popcorn und John Wayne – wie Blue Jeans und Stars & Stripes.

„Hier vorne spielt die Musik!“ Skyla Spencer schiebt ihren rosa Cowboyhut aus der Stirn. Die Blondine mit den Satteltaschenhüften ist eine der drei Tanzlehrerinnen des Wildhorse Saloons. Die wichtigsten Regeln hat sie schnell erklärt: Alle stehen in Reih und Glied in einem großen Viereck, alle sehen in die gleiche Richtung; keiner fasst den anderen an. Jetzt geht es darum, uns so über die Tanzfläche zu dirigieren, dass es keine Massenkarambolage gibt.

Alle sechs bis acht Wochen braucht Skyla ein neues Paar Cowboystiefel. Dann sind die alten durchgetanzt. Vier bis sieben Mal am Tag gibt sie Tanzstunden hier im Saloon, der an sieben Tagen der Woche geöffnet hat. „Der Wildhorse Saloon ist Nashvilles erste Adresse für Line Dancing“, hat sie vor dem Unterricht gesagt. Tatsächlich ist er die einzig verlässliche. In anderen Bars oder Clubs treffen sich fortgeschrittenere Tanzgruppen nur vereinzelt an bestimmten Tagen – will man als Neuling mal reinschnuppern, kommt man am Wildhorse nicht vorbei.

Nashville, eine Stadt mit 600 000 Einwohnern, ist berühmt für eine selbst in Zeiten illegaler Downloads höchst lebendige Musikszene. Vom späten Vormittag bis in die frühen Morgenstunden konkurrieren Folksänger und Country-Rocker in den Bars entlang des Broadway um die Trinkgelder der Gäste. Jeder zweite Laden verkauft Westernstiefel, und Gibson produziert hier bis heute Gitarren. Es gibt die Country Music Hall of Fame und mit dem Ryman Auditorium jene legendäre Konzerthalle, in der June Carter einst bei der berühmten Radiokonzertreihe „Grand Ole Opry“ ihren späteren Mann Johnny Cash kennenlernte. Selbst die Stromverteilerkästen in dieser Stadt haben sich der Musik verschrieben und beschallen durch Lautsprecher die an der Ampel wartenden Passanten mit Hits von örtlichen Country-Helden wie Garth Brooks und Faith Hill.

Auch wenn man wie ich kein ausgewiesener Country-Fan ist, kann es passieren, dass man bei so viel Musik spontan Lust bekommt, zu tanzen. Die Freiheit der Cowboys, die grenzenlose Weite des Westens hatte mich schon als Junge fasziniert – und Line Dancing, so meine Logik, war schließlich der Tanz der Cowboys, der Westmänner, der whiskeytrinkenden Kerle, die sich den Staub von der Hose klopften, nachdem sie den Bösewicht aus der Stadt vertrieben hatten.

Schrapp-tapp, schrapp-tapp – Vierteldrehung, kick. Deshalb stehe ich also auf dieser Tanzfläche und versuche, mir die Schrittfolgen einzuprägen, die Skyla Spencer uns über die Musik hinweg zuruft: „Schritt nach rechts, klatsch, zurück, Schritt nach links, klatsch, zurück.“ Line Dancing ist unkompliziert. Weil alle nebeneinander tanzen, braucht niemand einen Partner. Sogar notorische Einzelgänger hätten beim Line Dancing Gelegenheit, sich als Teil einer Bewegung zu fühlen.

Und weil Spencer will, dass sich die Gäste während ihrer Tanzstunde wohlfühlen, sind die Schrittfolgen, die sie ansagt, so einfach, dass auch ein ungeübter Tänzer mithalten kann. „Hüfte wiegen, drehen, stehen!“ Auch die Frau links von mir steht: auf meinem Fuß. Ein entschuldigender Blick, ich mache eine lockere Cowboygeste – oder das, was ich dafür halte. Schon geht es wieder weiter, und ich muss mich konzentrieren, nicht selbst die Choreographie zu vermasseln. Wenn es jedoch klappt, wenn sich die rund 50 Leute auf der Tanzfläche im selben Moment in die gleiche Richtung bewegen, ein wenig wie ein Fischschwarm unter Wasser, dann ist das ein beeindruckender Anblick.

Als ich in einer der Pausen zwischen den Tanzstunden mit Skyla, der Lehrerin, spreche, klärt sie mich freundlich über meinen Irrtum mit der Westerntradition auf: Line Dancing hat mit Country und Cowboys so gut wie gar nichts zu tun, sondern ist eine relativ moderne Erfindung. „Der Ursprung des Line Dancing ist vermutlich ein Tanz namens ,The Stroll' aus den 40er Jahren“, erklärt mir die Lehrerin, die aus West Virginia stammt und Tanz studiert hat. „Nach dem ,Stroll' kamen in den 60er Jahren Tänze wie der ‚Bunny Hop' oder der ‚Hully Gully' in Mode. Aber erst in den 70er Jahren wurden Line-Dancing-Choreografien zum ersten Mal schriftlich festgehalten.“

Es war schließlich John Travolta, der mit Lederjacke, Tolle und breitem Grinsen 1978 im Film „Grease“ den „Stroll“ wieder populär machte. Und nur zwei Jahre später als Trailer-Park-Macho mit eng anliegenden Karohemden und vor Wut geballten Fäusten in „Urban Cowboy“ den Saloon zur männlicheren Disko erklärte – und Line Dancing als den Country-Tanz der Südstaaten etablierte.

In Deutschland nur mäßig bekannt, ist der Film in den USA ein innig geliebter Klassiker. Nicht nur Madonna zitierte die „Urban Cowboy“-Ästhetik in ihrem von Jean-Baptiste Mondino inszenierten Video „Don’t Tell Me“. Auch die Rockband Kings of Leon, die nur wenige Kilometer entfernt vom Wildhorse Saloon in Nashville lebt, greift in ihrem Video „King of the Rodeo“ auf Tanzszenen des Films zurück. Und in der aktuellen Wiederauflage des Tanzfilmklassikers „Footloose“ sieht man Cowboystiefel und Converse-Turnschuhe einträchtig nebeneinander beim Line Dancing herumwirbeln. „Das Choreographenteam des Films kam hierher in den Wildhorse Saloon“, sagt Skyla, die Daumen lässig in die Taschen ihrer Jeans gehängt. „Und eine der Premierenfeiern des Films fand bei uns statt.“

Sie steigt wieder auf die Bühne, und ich begebe mich zurück auf die Tanzfläche, nach dem „Nashville Chacha“ ist jetzt der „Cupid Shuffle“ an der Reihe. Auch wenn Line Dancing weniger alt ist, als ich vermutet hätte, so hat man doch den Eindruck, dass es dennoch etwas ist, das Amerika im Innersten zusammenhält. Denn so gespalten das Land dieser Tage sonst ist, zwischen den liberalen Küstenstädten und dem Heartland, so sehr es sich zwischen Obama-Hassern und Romney-Hassern zerreibt, zwischen Abtreibungsbefürwortern und -gegnern, zwischen „Redneck Hillbillies“ und „elitären Wallstreet-Juden“: Hier auf der Tanzfläche sind die Reihen bunt gemischt und friedlich. Schwarz tanzt neben Weiß, Anzug neben Jogginghose, Alt neben Jung, Liberal neben Konservativ. Als ich den Geschäftsmann, der mir schon vorher durch seinen Enthusiasmus aufgefallen ist, zwischen zwei Liedern frage, was ihn am Line Dancing reizt, fallen ihm eine ganze Reihe von Dingen ein: „Das Gruppengefühl! Die Kameradschaft! Du wackelst neben Leuten, die du noch nie vorher gesehen hast, mit deinem Hintern und gibst ihnen am Ende High Five!“, sagt Reg Warren. „Was zur Hölle kann man daran nicht mögen?“

Recht hat er! Ich sehe einen – zugegebenermaßen nur durch meine Klischeebrille so eingestuften – schwulen Cowboy mit Hut und engem Karohemd. Er tanzt neben einer älteren Dame, die ihre Brille mit einer zarten Kette gesichert hat. Später werden sie am Rande der Tanzfläche miteinander plaudern, für eine kurze Zeit wird es so aussehen, als sei Frieden und Verständnis auf Erden möglich.

Ich trinke ein Bier ohne nennenswerten Alkoholgehalt und esse frittierte Gurken, eine gewöhnungsbedürftige Spezialität des Hauses. Mein Kopf schwirrt ein wenig vom „Cowboy Hustle“ und dem „Tennessee Stroll“ und von den verschiedenen Schritten. Aber ich glaube, ich habe mich für einen Anfänger gar nicht schlecht geschlagen. Mit den zwei afroamerikanischen Mädchen, die die Tanzfläche mit ihrer guten Laune geradezu regierten, konnte ich allerdings nicht mithalten. Keke Harrison und Taylor Jackson stammen aus Alabama und sind zu Besuch in Nashville. „Wir haben Line Dancing schon in der Grundschule gelernt“, sagen die beiden 18-Jährigen. „Es ist toll, dass man es in der Gruppe tanzen kann und sich nicht paarweise zusammentun muss. Außerdem ist es eine uralte amerikanische Tradition, das ist doch cool.“

„Line Dancing ist gar nicht so alt“, doziere ich im Klugscheißermodus. „Eigentlich wurde es erst in den 70er Jahren populär.“ An den Blicken der beiden Teenager sehe ich, dass sie mich für mindestens 100 halten, aber zu gut erzogen sind, um ihr Grauen kundzutun. „Vielleicht haben Sie recht, Mister, aber wir gehen jetzt wieder tanzen.“ Weg sind sie. Linke Hacke, rechte Hacke, Vierteldrehung, Hops. Ich tanze hinterher und bin mit einem Mal gar nicht traurig, dass sich meine Cowboyillusionen und falschen Westernmythen in Klimaanlagen-gekühlte Luft aufgelöst haben. In den USA, dem ewig jungen Freizeitpark, ist etwas eben auch schon Tradition, wenn es älter ist als Lady Gaga.

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