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Amokläufer: Einsam und ohne Einfühlungsvermögen

In seinem Buch "Amok im Kopf" porträtiert der Psychologe Peter Langman ausführlich die Seele von zehn völlig verschiedenen Schul-Amokläufern. Und erkennt Gemeinsamkeiten.

Jeffrey Weise hatte keine schöne Kindheit. Als er acht Jahre alt war, lieferte sich sein Vater einen Schusswechsel mit der Polizei und tötete sich dabei selbst. Nur zwei Jahre später überlebte seine alkoholsüchtige und gewalttätige Mutter einen Autounfall nur knapp und muss seither in einem Pflegeheim leben. Jeffrey selbst erschoss 2005, als er 16 Jahre alt war, seinen Großvater, dessen Freundin und an seiner Schule in Red Lake, Minnesota einen Sicherheitsbediensteten, einen Lehrer und fünf Schüler. Dann tötete er sich selbst.

Eric Harris, einer der bekanntesten "Schoolshooter" hingegen kam aus einer intakten Mittelschichtfamilie mit Swimmingpool im Garten. Er hatte Freunde und gute Noten in der Schule. Aber er hielt sich für gottähnlich. Besonders verachtete er Schwarze, Juden und Behinderte. Gemeinsam mit dem schüchternen Dylan Klebold verübte er das Massaker an der Columbine High School.

Drew Golden war auch ein geliebtes Kind, das Zentrum seiner Eltern, wie eine Freundin behauptete. Drew war nett, wenn er wollte. Aber wenn Erwachsene nicht hinsahen, misshandelte er kleinere Mädchen, bedrohte Gleichaltrige mit der Luftpistole und quälte Katzen zu Tode. Mit nur elf Jahren erschoss er gemeinsam mit dem 13-jährigen Mitchell Johnson fünf Menschen in Arkansas. Mutter, Vater und Großeltern waren alle Waffennarren.

Michael Carneal war nicht so selbstbewusst wie Drew und Eric, obwohl auch seine Familie liebevoll war. Er hielt sich selbst für einen Alien und er benahm sich auch wie ein Sonderling. Er fühlte sich verfolgt, hatte Angst vor Überfällen, Monstern und einem Mann mit Kettensäge unter dem Haus. Als er 14 Jahre alt war ging er in seine Schule in Kentucky, ermordete drei Mädchen und verletzte fünf andere Schüler. Im Gefängnis versuchte er mehrfach, sich das Leben zu nehmen.

Was haben diese Jungen wohl gemeinsam? Auf den ersten Blick herzlich wenig. Manche Amokläufer wurden an der Schule gehänselt, andere tyrannisierten selbst ihre Mitschüler, wieder andere fielen gar nicht weiter auf. Manche waren gut in der Schule, andere hatten weniger gute Perspektiven. Manche stammten aus einer waffenverliebten Familie, andere hatten damit nichts zu tun. Manche hatten liebevolle Mütter und Väter, andere eine grausame Kindheit. Ein ähnliches Bild würde sich auch unter den deutschen Schulamokläufern ergeben.

Der Psychiater und Psychotherapeut Peter Langman hat in seinem Buch Amok im Kopf zehn amerikanische Schul-Amokläufer porträtiert, so differenziert dies anhand von Tagebüchern, Ermittlungsergebnissen und Zeugenaussagen möglich war. In seinem Buch stellt er zudem einige jugendliche Patienten aus der Psychiatrischen Klinik vor, in der er arbeitet. Sie wurden zur Behandlung gebracht, bevor sie möglicherweise zu Killern wurden. Auch sie haben alle ihre ganz eigene Geschichte.

Langman ergänzt mit diesen Portraits ein fehlendes Puzzleteil in der Berichterstattung über die "Schoolshooter". Sein Blick richtet sich nämlich schwerpunktmäßig auf die Seele der Jungen. Bisher wurde vor allem das Umfeld betrachtet. Waren die Täter Opfer von Mobbing? Mobbten sie selbst? In welchen Familienverhältnissen lebten sie? Und auch die Medien und Waffen, welche die Täter faszinierten, waren Gegenstand der Analyse. Welche Musik hörten die "Schoolshooters"? Welche Filme sahen sie? Und spielten sie Killerspiele?

Nach Langmans Analysen hatten alle Täter schwere psychische Probleme. So unterschiedlich ihre Persönlichkeiten waren, fühlten sie sich doch alle einsam und isoliert. Die Ursachen für ihre Isolation finden sich laut Langman in den seelischen Störungen und weniger in den konkreten Mobbing-Aktionen oder anderen Anfeindungen von außen.

Langman teilt die zehn Amokläufer in drei Gruppen ein: Die erste Gruppe bilden die Psychopathen, Menschen wie Eric Harris und Drew Golden, die nicht nur aggressiv, ohne Gewissen und Moral und mit einem Mangel an Empathie durch die Welt gehen, sondern auch sadistisch sind. Sie genießen es, andere leiden zu lassen. Psychopathen können zudem oft sehr liebenswert und freundlich wirken, wenn sie wollen und täuschen deshalb ihre Umwelt.

Die zweite Gruppe besteht aus Psychotikern, die zum Beispiel oft unter Schizophrenie oder schizoiden Störungen leiden. Dazu gehörte der Partner von Eric Harris, Dylan Klebold. Er stand im Schatten von Eric, war eher depressiv als größenwahnsinnig. In seinen Phantasien wollte er sich am liebsten vom "Menschlichen" befreien; es ging ihm mehr um Selbstverletzung und Selbstmord, als um das Niedermetzeln anderer. Auch Michael Carneal zum Beispiel, der sich für einen Alien hielt, sortiert Langman in diese Gruppe ein.  

Schließlich gibt es auch traumatisierte Kinder unter den Amokläufern. Jeffrey Weise ist ein Beispiel für diese Gruppe. Oder Mitchell Johnson, der gemeinsam mit dem eher sadistischen Andrew Golden 1998 in Jonesboro, Arkansas auf  Mitschüler und Lehrer schoss. Er wurde nicht nur misshandelt, sondern auch jahrelang sexuell missbraucht. Zwar weist Langman immer wieder darauf hin, dass solche psychischen Probleme nicht automatisch einen Mörder aus einem Menschen machen. Schizophrene beispielsweise sind nicht gewalttätiger als der Durchschnitt der Bevölkerung, Traumatisierte dagegen neigen eher zu Selbstmord. Es muss also einiges zusammenkommen, damit jemand zum Killer wird.

Aber in jedem von Langman beschriebenem Amok-Fall befand sich der Täter in einer tiefen psychischen Krise. Und hätte man das rechtzeitig erkannt, hätte man die Umwelt schützen und womöglich auch den betroffenen Jungen helfen können, ihr Leben weiterzuleben.

Es gibt bei allen Unterschieden jedoch auch auffällige Gemeinsamkeiten. Die augenfälligste davon ist ein Problem mit der Männlichkeit. Obwohl durchaus auch schon Mädchen Amokläufe verübt oder geplant haben, sind die Täter doch meist junge Männer, die sich nicht ausreichend männlich fühlen. Sie haben körperlich Defizite, fühlen sich zu klein, zu schwach und fast alle kamen nicht gut bei den Mädchen an. Und in ihrer Verletztheit und Hilflosigkeit besinnen sie sich auf Gewalt als Mittel, selbst Männlichkeit beweisen zu können. Sie hatten entsprechende Vorbilder: Eric verehrte beispielsweise Adolf Hitler, Dylan Charles Manson, die meisten fanden Vorbilder in anderen Amokläufern. Schließlich üben sie Gewalt in der Phantasie aber auch mit entsprechenden Büchern, Killerspielen oder mit Luftdruckgewehren regelrecht ein.

Alle Amokläufer fühlten sich jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht zugehörig zu ihrer Umwelt. Was nicht nur Neid und Scham, sondern auch unbeherrschbare Wut auslöste; in vielen entstand auch existentielle Angst. Hier spielt auch die Kleinstadt, in der auch in Deutschland die meisten Schulmassaker stattfinden, eine Rolle. Ein Außenseiter in New York City oder Berlin hat es leichter, eine Peergroup mit ähnlichen Jugendlichen zu finden, als einer in Littleton oder Winnenden, in der die Welt homogener ist.

Allen Tätern mangelte es an Empathie, was einerseits aus der starken Wut herrühren könnte, die einen blind macht für die Gefühle anderer. Andererseits kann dieser Mangel auch aus dem Gefühl der Andersartigkeit entstehen. Wer die Welt immer einteilt in eine feindliche und eine eigene Gruppe, der fühlt – wie im Krieg oder im Sportwettkampf – nicht mehr mit der anderen Gruppe mit, erklärt Langman.

Hinzu kommt eine Tendenz zu "extremer Reaktivität, wie Langman das Phänomen bezeichnet, Niederlagen geradezu einzusammeln. Alle beschriebenen Jungen reagierten extrem auf Misserfolge, Hänseleien und Zurückweisungen vor allem von Mädchen. Die Amokläufer konnten diese nicht verzeihen. Was eigentlich zu einem normalen Teenager-Leben an Enttäuschungen dazu gehört, war für sie eine dauerhafte Beleidigung.

Langman liefert keine Erklärung für das Wesen aller Amokläufer. Er kann die Tragödien lediglich rekonstruieren. Die in jedem Porträt neu gestellte Frage nach dem "warum" kann auch er nicht beantworten. Die teilweise sehr redundanten und ausführlichen Porträts münden in einem sehr kurzen Schluss, der nur wenige konkrete Empfehlungen gibt, wie man Amokläufe verhindern könnte.

Doch seine Analyse ist dennoch wichtig, um deutlich zu machen, dass Lehrer, Eltern, Verwandte und Freunde nicht darum herum kommen, jedes einzelne Kind genau anzusehen. Politiker werden das Problem nicht mit einem neuen Waffengesetz aus der Welt schaffen können. Die Psyche des Einzelnen muss mit dem zusammen betrachtet werden, was auf das Kind von außen einprasselt.

Quelle: ZEIT ONLINE

Parvin Sadigh

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