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Amoklauf in Erfurt: Der dunkle Fleck in mir

Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Eine Zeit, um zu vergessen. Für viele Schüler und Lehrer des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums aber ist eine Wunde geblieben. Vor allem, weil der Amoklauf vom 26. April 2002 nie wirklich aufgearbeitet wurde. Zehn Jahre sind eine kurze Zeit.

Der 26. April 2002 ist nicht vorbei. Nicht in ihrem Kopf. „Deshalb kann ich ihn auch nicht loslassen“, sagt Hanna M. Vor zehn Jahren, als Robert Steinhäuser an ihrem Gymnasium in Erfurt 16 Menschen und dann sich selbst erschoss, war sie Schülerin der zehnten Klasse. Heute arbeitet sie als Designerin in Mainz. „Ich habe dieselben Fragen wie damals. Was ist wirklich an dem Tag passiert?“ Klar ist Zeit vergangen, klar ist dieser dunkle Tag nicht jede Sekunde in ihr, klar weiß sie, dass woanders in der Welt auch geschossen wird. Und trotzdem: Für sie ist es die ganze Zeit über so, als säße sie vor einem geschlossenen Vorhang. „Ich sitze, starre ihn an und hoffe, dass er irgendwann aufgeht. Jemand muss doch mal reden. Alle kennen sich in dieser Stadt.“

Der Freitag im April 2002 ist besonders für viele Jugendliche in Erfurt eine Wunde geblieben. Sie leiden an ihren Erinnerungen, sprechen immerzu von Schicksalsgemeinschaft. Einige der ehemaligen Schüler des Gutenberg-Gymnasiums, erklären sie, seien nie im Berufsleben angekommen, bei denen gehe es heute um Verrentung. Andere sind seitdem auf therapeutische Hilfe angewiesen. Sie kommen nicht mehr heraus aus dem Geschehen, haben andere Bilder in sich als die, die man zu offiziellen gemacht hat.

„Was wir gebraucht hätten, wären genaue Informationen gewesen“, sagt auch ein Angehöriger. Obduktionsberichte als Massenware, merkwürdige Angaben zu den Todeszeitpunkten, fehlende Ermittlungsakten, rasch vernichtete Asservate, die ausdrückliche Nachrichtensperre gegenüber den Angehörigen. Viel ist geschrieben worden über das Unaufgeklärte, die Schattenzonen, den Zweifel, das Schweigen bei der Aufarbeitung des Geschehens. Wenn es um das Schulmassaker von Erfurt geht, kommt das Gespräch fast immer darauf, dass etwas fehlt. Dann zerfallen die Berichte über den Tag in offizielle und inoffizielle Versionen, als kreiselten sie um eine leere Szene, als sei etwas nicht wirklich in den Blick gekommen und das Ganze ein Mutmaßungsfeld geblieben.

Erfurt erinnert den Opfern vom Amoklauf vor zehn Jahren:

„Also, ich bring jetzt mal den Text, den ich immer bringe, wenn es um den 26. April 2002 an unserer Schule geht“, sagt Svenja M., 26 Jahre, lange, blonde Haare. „Wir hatten Unterricht im zweiten Stock, im Durchgangsraum 204/210. Die Stunde war fast zu Ende. Als wir Schüsse hörten. Wir schmissen uns auf den Boden, warteten. Unsere Lehrerin rief: Los, los, raus hier! Ich war mit ihr die Letzte im Raum und sah hinter uns eine schwarze Person. Ich fing sofort an zu laufen, bin immer nur gelaufen, vorbei an Körpern. Liegende, Hastende. Als ich draußen bei Bäcker Rüger an der Ecke zum Stehen kam, begriff ich: Unsere Lehrerin ist nicht mehr da.“ Sie sei dann zwei Stunden durch die Stadt gelaufen, allein, im Nieselregen, und irgendwann oben, bei den anderen, auf dem Sportplatz gelandet. Sie hält inne. Dann sagt sie scharf: „Das kann man doch bestimmt gut in eine Geschichte einbauen: Nach der Schule bin ich Hebamme geworden. Schreiben Sie das! So was wollen die Leute doch lesen, so ein Herz-Schmerz-Ding. Die Frau, die dem Tod entkam und heute anderen Leben schenkt. Irgendwas von Ehrfurcht vom Leben müssen Sie schreiben. Das kommt immer gut.“

"Da ist ein dunkler Fleck in mir."

Wieder hält sie inne. Sie war 16 damals, als das passierte. Ihr Schmerz sollte frei bleiben von all dem Ungeklärten. Niemand sollte Profit daraus schlagen. Als sie nach acht Wochen bei der Polizei eine Aussage machen wollte, hieß es, der Fall sei abgeschlossen. Abgeschlossen! Ha! Sie ist dem nicht mehr nachgegangen, hatte keine Kraft dazu. Und heute?

Sie stockt. „Wenn man hier wohnen bleibt, in so einer kleinen Stadt wie Erfurt, muss man anfangen zu lügen und die inneren Bilder umschreiben. Das ist eine Entscheidung. Es geht sonst nicht. Man verrottet sonst von innen. Und irgendwann weiß man auch, dass sie nie mehr wiederkommen. Ich kann den Tag genau sagen. Es war der 13. Mai 2007. Ich lief über den Domplatz. Die Leute saßen draußen auf den Bänken, vor den Cafés, schwatzten. Es war Frühling. Und plötzlich war klar: Die Bilder kommen nicht mehr. Sie sind weg. Bis dahin hatte ich offensichtlich immer noch gehofft.“

Stephan K. war damals Schüler des Gutenberg-Gymnasiums in der elften Klasse und ist heute Arzt in Gera. „Der 26. April 2002 hat mich zehn Jahre Jugend gekostet, zehn Jahre Leichtigkeit“, sagt er. „Ich weiß nicht, wer ich ohne diesen Tag wäre. Da ist immerzu ein dunkler Fleck in mir, wie ein Loch, ein Schmerz, der sich nicht aufgelöst, mich aber verändert hat. Zu verstehen, dass Leiden etwas sehr Reales ist, dass mitunter Dinge passieren, die man nicht steuern kann, dass es auf vieles keine Antwort gibt, dass Menschen plötzlich nicht mehr da sind, und das für immer. Das wusste ich vorher nicht. Eine glückliche Liebesbeziehung? Ich weiß noch immer nicht, wie das geht. Mit den Jahren bin ich zum Medien-Junkie geworden. Morbide Sachen, Krimis, Thriller, der Mörder in all seinen Facetten. Das ist ganz mein Ding. Eine Art Grusel-Setting vielleicht. Die Beziehungen zum 26. April 2002 jedenfalls sind kompliziert. Vor allem weil so vieles im Unklaren geblieben ist.“

„Als nach dem Tod so vieler Kollegen die neuen Lehrer kamen, wollten wir sie nicht“, sagt Susanna H., Lehrerin am Gutenberg-Gymnasium. „Die hatten echt einen schweren Stand. Das Kollegium war gespalten. Vieles blieb unbesprochen. Schwierige Zeiten. Erst 2006 begann so etwas wie eine kleine Aufarbeitung. Doch zu keiner Zeit gab es eine zusammen mit den Schülern. Dafür ist das Hierarchiedenken an unserer Schule zu groß.“ War es denn sicher, dass die Lehrer, die das Massaker miterlebt haben, bleiben würden? „Ich kann nicht für alle sprechen, aber es gab unter den Lehrern, die überlebt haben, ein großes Schuldproblem. Warum ist das bei uns passiert, und warum habe ausgerechnet ich überlebt? Jeder hat sich mit seiner Trauer einen eigenen Weg suchen müssen. Wir waren alle so wund.“

Die zehn Jahre nach dem 26. April 2002 nennt Susanna H. „ihren anderen Weg“. Alles, was an Fortbildung möglich war, nahm sie in Anspruch: Moderationsausbildung, Deeskalationstraining, Ausbildung als Beratungslehrerin. Doch jetzt misstraut sie den Worten. „Demokratische Schule, freie Persönlichkeit, umfassende Bildung. Reformen über Reformen, das ganze Pädagogik-Bla-Bla, nee, nicht mit mir. Sonntagsreden alles. Auf dem Papier hat die Schulpolitik immer schöne Worte, klingt das Ganze umwerfend. Eine wirkliche Konsequenz auf das Gutenberg-Desaster? Nein, die sehe ich nicht.“

"Nichts wurde wirklich klar."

Mahela P. saß am 26. April 2002 im Schulbistro ihres Gymnasiums in Weimar. Sie war 15 Jahre alt und in der neunten Klasse. Chemie, die fünfte Stunde, fiel aus. Sie saß vor ihrem Kaffee und spielte mit dem Handy, als eine SMS eintraf: „Kein Witz! Zehn Tote an einem Erfurter Gymnasium. Irre! Schalt mal den Fernseher ein!“ Mahela P. lief nach Hause. „Ich weiß, dass das jetzt nicht gut klingt, aber diese Bilder ... Ich dachte, endlich passiert mal was. All die Jahre dümpelte ich so vor mich hin. Die Schule, der Druck. Es war ätzend. Die Amokläufe von Dunblane, von Columbine – sicher, ich verfolgte das alles, aber die Geschichten waren so weit weg. Erfurt: Das war hier. Ich wollte alles darüber wissen. Zuerst war der Tag ein Sog, dann ein Brennen, jetzt ist er ein Loch, ein blinder Fleck. Nichts wurde wirklich klar. Das Ganze blieb ein Puzzle, eine Geschichte mit hundert Unbekannten.“

Nach dem Abitur studierte Mahela P. Schauspiel, ging nach ihrem Abschluss nach Palästina, zum jüdisch-arabischen Regisseur Juliano Mer Khamis. Doch dann kam der 4. April 2011. Juliano Mer Khamis hatte die Probe beendet, ging zu seinem Auto, setzte sich ans Steuer, kurbelte das Fahrerfenster runter, rief den Schauspielern noch etwas zu, lachte. Einer seiner Söhne saß auf dem Rücksitz. Mitten in diesen Abschied hinein trafen ihn fünf Kugeln. Wie aus dem Nichts. Er war sofort tot. „Nach ein paar Tagen kam Erfurt in mir zurück“, sagt Mahela P. „Die Albträume. Das Unvorstellbare, dachte ich, das in jeder Sekunde da ist. Ist es nicht so? Amok ist das einzige Thema, das mit unserer Generation wirklich zu tun hat. Es ist unser Stoff.“

Nach dem Tod von Juliano Mer Khamis ging Mahela P. nach Deutschland zurück und wurde von einem Theater in Thüringen engagiert. Mahela P. hat viel über Erfurt, den Schmerz und das ganze Drumrum nachgedacht. Zehn Jahre sind viel Zeit. „Ich erinnere mich noch gut an die Abiturzeit. An all das Trübe, Maue, Verbackene. Heute denke ich: Robert Steinhäuser hat mit voller Wucht in den waidwunden Osten nach 1989 geschossen. In eine Gesellschaft, die nach vorn hin sanierte und sanierte und doch ohne Boden blieb. Niemand fühlte sich zuständig. Die Politik versank im Sumpf. Mafia, Korruption, Ost-West-Deals. Nichts galt. Keiner, dem man geglaubt hätte. Irgendwann schwieg jeder von etwas anderem. Wir Jungen haben da alle unseren Schlag wegbekommen.“ – „Sie sind immerhin eine erfolgreiche Schauspielerin geworden.“ – „Ja, sicher. Aber Steinhäuser, Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt, die gehen mich was an. Ich komme von hier.“

Und dann sagt Mahela P., als hätte sie den Gedanken gerade in diesem Moment gefunden: „Man muss nicht kapitulieren. Der Prozess gegen den Massenmörder Breivik in Oslo zeigt, dass es geht.“ Für sie scheint es so, als würde das norwegische Gericht den Fall Robert Steinhäuser noch mal mitverhandeln. „Wie die Norweger um jedes Detail kämpfen, um jedes Leben, jedes Gesicht, jede Einschussstelle. Das beschäftigt mich. Sie wollen sich zurück haben, ihr Bild von sich. Und sie wissen, das geht nur konkret, so sehr es sie zerreißt. Durch den Breivik-Prozess begreift man mit jedem Tag mehr, was in Erfurt alles verunmöglicht wurde.“

Ines Geipel ist Autorin zweier Bücher über Amokläufe: „Für heute reicht’s“ und „Der Amok-Komplex“.

Ines Geipel

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