zum Hauptinhalt

Atomkraftwerke: Mülltrennung: Was passiert nach dem Abschalten?

Kernkraftwerke aus! Das sagt sich leicht. Was passiert, wenn alte Atomanlagen abgeschaltet werden, ist in Lubmin an der Ostsee zu verfolgen. Zur grünen Wiese wird das Areal nicht. Schon jetzt steht dort ein Zwischenlager für radioaktiven Abfall.

Dann haben Robert Köhler und seine Leute bemerkt, dass der Strand sich in ihrem Seebad verändert. „Wir hatten mal so nen richtig schönen griffigen Strandsand, jetzt ist er so“, sagt Köhler, und dann wird es eine Weile still, „so fest. Aber gleichzeitig so fein, dass er wegweht.“ Bis dahin war Köhler nur bekannt gewesen, dass der Strand auf dem Seeweg verschwindet, langsam und stetig, durchschnittlich 64 Zentimeter Küstenstreifen jedes Jahr. Und nun also auch der Wind.

Es war die Folge davon, dass in der Nähe ein Atomkraftwerk abgeschaltet worden war.

Robert Köhler ist zweiter stellvertretender Bürgermeister des Ostseebadeortes Lubmin bei Greifswald – 2100 Einwohner, 260 gemeldete Unternehmen, Übernachtungszahlen von Mai bis September 2010 etwa 52000 –, und als solcher auch Mitglied in der Gemeindevertretung. Er gehört zur Fraktion der Wählergemeinschaft Frischer Wind für Lubmin, die sich im Jahr 2004 aus einer Bürgerinitiative heraus gegründet hatte, und die Bürgerinitiative wiederum hatte es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur auf den feinen Sand hinzuweisen, sondern auch auf Dinge, die sie für zu grob befand. Kraftwerksnachfolgegrobheiten. Köhlers Leute hatten viel zu tun.

Wer also wissen will, was in den nächsten Jahren an all den Orten in Deutschland passieren könnte, in denen Atomkraftwerke demontiert werden, kann sich an Köhlers Tisch setzen. Oder an den von Bürgermeister Axel Vogt, ebenfalls ehrenamtlich tätig, aber die Dinge etwas anders sehend, CDU. Langjährig geschultes Fachwissen haben sie beide, 1990 wurde der letzte Reaktorblock im nahen Volkseigenen Kombinat Kernkraftwerke Bruno Leuschner abgeschaltet. Fachwissen hat auch die Nachfolgefirma Energiewerke Nord GmbH. Sie ist Bundeseigentum und kümmert sich um den Abriss, um das auf ihrem Gelände ansässige Zwischenlager, um neue Industrieansiedlungen und einen großen Teil der Dinge, die Köhler meist für Unsinn hält und Vogt meist für gut.

Köhler sucht noch nach Worten, die die Sandkonsistenz am Strand besser beschreiben, er kommt auf keine. „Früher griffig, heute fein und fest“, sagt er noch einmal. Als Rechtsanwalt ist er angewiesen auf treffsichere Begriffe, und er wirkt ein wenig hilflos jetzt, weil es ihm nicht gelingt, den Strandsandzustand für ihn selbst zufriedenstellend zu definieren.

Fein und fest. Makelloser Sandstaub, leider aufwirbelnd, und der starre, zurückbleibende Rest. Im Grunde hat Köhler eine Formel für den ganzen Lubminer Nachatomkraftkomplex gefunden.

Reserviert hatten Köhler und die Frischer-Wind-Leute immer wieder Worten zugehört und Pläne gelesen, deren Sinn manchmal schon von der ersten Frage nach dem Warum fortgeweht war. Am Ende stand dann trotzdem irgendetwas aus Beton ziemlich fest in der Landschaft, von dem kein Mensch schlüssig sagen konnte, wozu es eigentlich gebraucht werden würde. Ein Hafen zum Beispiel.

Der neue Sand, der den vom Meer fortgespülten ersetzen sollte, stammte aus dem Kanalsystem des stillgelegten Atomkraftwerks. „Die Körnung entspricht bisher nicht dem vorhandenen Strandsand, mit 0,2 Millimetern im Mittel“, stellte eine Bürgerinitiative 2002 fest, aber im Grunde war das sogar eine Erfolgsmeldung. Denn der Sand war eben vor allem: „frei von jeglicher radioaktiven Kontamination“. Das war eine der Forderungen der Bürgerinitiative. Anfangs hatten die Energiewerke Nord nämlich vorgehabt, den Sand aus ihren Kanälen an das Lubminer Ostseeufer zu schaffen, ohne ihn vorher ausreichend radiologisch zu prüfen und entsprechend zu sortieren.

Warum aber sollten die Kanäle überhaupt ausgebaggert werden? Das Kraftwerk war längst ausgeschaltet, es fiel doch kaum noch Kühlwasser an, was man zur Ostsee hin loswerden musste? Das hat etwas damit zu tun, dass das alte Kraftwerksgelände, das viele in Lubmin nur den „Standort“ nennen, ein idealer Platz für neue Kraftwerke ist. Es gibt eine Straße, Bahngleise und Hochspannungsleitungen, und es gibt Menschen hier, die etwas von der Stromerzeugung verstehen. Begründet wurde die Kanalvertiefung also mit dem erhofften Bau zweier Gaskraftwerke. Die würden allerdings nur etwa die Hälfte der Abwärme produzieren, die beim alten Atomkraftwerk angefallen war. Dennoch sollte der Kanalquerschnitt auf das Fünffache vergrößert werden.

Es sah alles nach großem Unsinn aus, bis im Jahr 2000 auf der Weltausstellung Expo in Hannover Prospekte der Energiewerke Nord herumlagen, mit simulierten Bildern vom bereits sanierten Kühlwasserkanal und zwei Schiffen drauf. Das sah nach noch größerem Unsinn aus. Das Vorhaben, das für die Genehmigungsbehörden „Sanierung des Kühlkanals“ heißen sollte, würde also offenbar ein Hafen werden. Wäre es so genannt worden, hätte es umfangreiche Vorprüfungen gegeben, an deren Ende womöglich festgestellt worden wäre, dass es für so einen Hafen keinen Bedarf gäbe. Am Greifswalder Bodden, an dem Lubmin und das Kraftwerksgelände liegen, gab es bereits vier Häfen. Etwas weiter weg noch einen in Stralsund und einen auf Rügen. Ihre Betreiber klagten über zu wenig Betrieb, sie mussten bezuschusst werden.

Mittlerweile ist die Kanalsanierung beendet, 35 Millionen Steuereuro sind verbaut, ein wunderbar rechtwinkliges Hafenbecken mit fünf Liegeplätzen ist entstanden. Schiffe sind nicht zu sehen. Köhler hat eine Strafanzeige gestellt wegen Subventionsbetrug. Die Staatsanwaltschaft Stralsund fragte beim Schweriner Wirtschaftsministerium nach und verfolgte die Anzeige anschließend nicht weiter. Das Wirtschaftsministerium war am Hafenbau beteiligt.

Das Lubminer Atomkraftwerk ist nicht das einzige in Deutschland, das endgültig nicht mehr in Betrieb ist. Es ist jedoch unter ihnen das größte, sogar weltweit soll es nach Aussagen des Kernenergieverbandes Deutsches Atomforum das größte Stilllegungsprojekt sein, und vielleicht ist auch die Verzweiflung über seine Zerlegung hier im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns größer als anderswo, der Arbeitsplätze wegen. Die Verzweiflung darüber, dass es dieses Kraftwerk je gegeben hat, womöglich aber auch. Denn die wichtigste Neuansiedlung auf seinem Gelände ist ein Zwischenlager.

Mit ihren Folgen beschäftigte sich vergangenen Herbst die Gemeindevertretung. Im Protokoll der Sitzung vom 8. November stehen Begriffe wie „immenser Imageschaden“ und „ständige Negativschlagzeilen“. Das Seebad fürchtet um seinen Ruf. Weil den Medien der feine Unterschied wenig auszumachen scheint, wonach es ein atomares Zwischenlager Lubmin gar nicht gibt, die korrekte Bezeichnung hingegen „Zwischenlager Nord“ lautet. Einem Beschluss, solche Fehler künftig rechtlich zu verfolgen, stimmten die Gemeindevertreter mit knapper Mehrheit zu.

Das war Köhlers Idee. Er wirkt heute nicht mehr besonders überzeugt davon; es sei ein Versuch gewesen, sagt er. Bürgermeister Vogt hat ohnehin verhindert, dass der Beschluss umgesetzt wurde. Vogt sieht die Sache mit dem Zwischenlager sowieso anders. Als Ende des vergangenen und im Februar dieses Jahres zwei Castor-Transporte dort ankamen und wieder viel über Lubmin berichtet wurde, hat ihm seine Sekretärin drei E-Mails von Leuten vorgelegt, die geplant hatten, im Sommer hier Urlaub zu machen, und nun Abstand davon nahmen. „Aber ich habe mindestens doppelt so viele Polizisten damals hier getroffen, die haben gesagt, irgendwann kommen wir wieder, mit der Familie“, sagt Vogt.

Vogt schaut nach vorn, in die Zukunft. Er möchte, dass etwas passiert in Lubmin, am Morgen war er am Ortseingang, Gärtner pflanzen dort gerade Rhododendren und Palmen, seit vergangenem Jahr stehen Kartoffelrosen auf dem Mittelstreifen. Vogt wollte sich davon überzeugen, dass es vorangeht.

Der Zukunftsmann könnte deutlich erkennen, dass sich der Umgang mit dem Zwischenlager zu wandeln beginnt. Es war einst ausschließlich für den Atomabfall der DDR geplant worden, die beiden letzten Castor-Transporte jedoch hatten Müll aus Karlsruhe und aus einem bundesdeutschen Atomfrachter geladen. Die Geschichte des Zwischenlagers scheint ähnlich zu verlaufen wie die vom Abwasserkanal, der schließlich ein Hafen wurde.

Geplant jedenfalls scheint das Ganze schon sehr früh gewesen zu sein. In einer englischsprachigen Informationsschrift der Energiewerke Nord von 1998 steht der Satz: „Das Zwischenlager erlaubt das Behandeln und Lagern von radioaktivem Material der Greifswalder und Rheinsberger Atomkraftwerke und bietet außerdem attraktive Dienste für Dritte.“

Doch auf das Zwischenlager hat Vogt keinen Einfluss. Hätte er ihn, er würde ihn wohl nicht wahrnehmen. „Atomrecht ist Bundesrecht“, sagt er, „und die CDU hier ist standortnah.“ Vom „Standort“ bekommt er gerade Hilfe, Planierraupen stehen am Strand, sie sollen den Sand verdichten und glätten. Köhler würde sagen, kein Wunder, Vogt freut sich darüber.

Die Sache mit dem Sand ist für Vogt ohnehin von gestern, genau so wie jener wohl spektakulärste Störfall im Atomkraftwerk, 1975, als ein Elektriker einem Lehrling vorführte, wie man elektrische Schaltkreise überbrückt und es anschließend dort brannte. Vogt hat davon noch nie gehört.

Im nächsten Jahr wird das Kraftwerk voraussichtlich abgebaut sein. Dann werden insgesamt 1,8 Millionen Tonnen Beton, Stahl, Kabel, Isolierwolle auseinandergenommen, wiederverwertet oder auf dem Müll sein. 600 000 Tonnen davon gelten als radioaktiv, sie müssen dekontaminiert werden, bei wiederum 100 000 Tonnen davon ist das sinnlos, sie müssen ins Zwischen- und ins Endlager. Am Ende wird das alles etwa vier Milliarden Euro gekostet haben.

Übrig bleibt ein 275 Hektar großes Industriegelände mit 14 Kilometern Schienen und 20 Kilometern Straßen darauf, mit einem Hafen und einer großen, neuen Kläranlage, einem benachbarten Endlager und einem benachbarten Badeort. Was indes fehlt, ist etwas, das für dieses Gelände ideal wäre. Eine dänische Firma plante, ein Steinkohlekraftwerk hier zu errichten, die Kohle dafür sollte aus Australien und Südkorea kommen, der Strom über das bereits existierende Hochspannungsnetz weggehen. Die Firma zog sich 2009 mit der Begründung zurück, es mangele ihr an politischer Unterstützung. Abgesandte jener Bürgerinitiative, aus der Frischer Wind einst hervorging, waren damals bei ihr vorstellig geworden. Es ist, falls es hier einen Zusammenhang gibt, der größte Erfolg von Köhlers Leuten.

Im vergangenen September teilten dann Gasprom und Eon mit, ihren Plan für ein Gaskraftwerk vorerst nicht weiter zu verfolgen. Und am Morgen des Tages, als Vogt nach den Pflanzen am Ortseingang sah, las er in der Zeitung, dass die Genehmigung eines anderen geplanten Gaskraftwerkes schwierig werden würde. „Das kann nicht sein“, sagt Vogt. Köhler sagt: „Wir sehen einen Bewusstseinswandel bei der Landesregierung.“

Köhler meint damit, dass die politisch Verantwortlichen mittlerweile etwas gelernt haben. Man kann ein Industriegebiet wunderbar herrichten, aber eben nicht um jeden Preis. Selbst wenn man dabei herumzutricksen versucht und deshalb mindestens die Hälfte der betroffenen Bevölkerung gegen sich aufbringt, kommt die Industrie noch lange nicht. In diesem Sinne ist Lubmin, dieses Nachkernkraftlabor, auch der Schauplatz eines Grundkurses in Demokratie.

Bleibt am Ende nur das Zwischenlager? Schon im Antragsschreiben für die Kanalsanierung damals war auch vom Bundesgrenzschutz die Rede, er habe Wünsche hinsichtlich der Ufergestaltung. Was macht der Bundesgrenzschutz am Kühlkanal eines abgeschalteten Atomkraftwerks? Das fragten sich viele. Castor-Transporte überwachen? Aus Übersee?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false