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Panorama: Auch Paris hat einen Osten

Die Stadt ist geteilt – in einen reichen Westen und ein aufstrebendes Viertel um den Canal Saint Martin

Von Schickimicki will James Arch nichts wissen. Der Besitzer des legendären Pariser „Hotel du Nord", das durch Marcel Carnés gleichnamigen Film über das Leben der kleinen Leute im Paris der 20er Jahre weltberühmt wurde, ist ein Kavalier der alten Schule. Elegant, traditionsbewusst und allen neumodischen Strömungen abgetan, schützt der 62-Jährige das nach Originalvorlagen restaurierte Hotel am Ufer des Canal Saint Martin vor Einflüssen der Schickeria, die sich in dem Viertel im Pariser Osten breit gemacht hat, einen Katzensprung von der Place de la République entfernt.

„Bobos" heißen sie in Paris, „Bourgeois Bohémiens", eine Spezies aus erfolgreichen Rechtsanwälten, Künstlern, Journalisten, Dichtern, Cineasten und PR-Leuten, die ihren Lifestyle pflegen, ihrem Individualismus frönen, Kreativität verbreiten und tiefsinnige Diskussionen führen. Sie gehören der gehobenen Mittelklasse an, verdienen Geld, aber protzen nicht. Das ist ein Grund, warum der klassische Bobo die von reichen Touristen bevölkerten Pariser Modeviertel im Westen der Stadt, die von sündhaft teueren Boutiquen flankierte Rue Faubourg St. Honoré, der Place Vendome oder die Avenue Montaigne, meidet wie der Teufel das Weihwasser.

Explodierende Mieten

Richtung Osten, heißt die Devise der Pariser, die wie die Stadt der Mode ständig in Bewegung sind. Vor zwanzig Jahren bereits begann der Trend zugunsten des rechten Seine-Ufers, zurück blieben die berühmten Universitätsviertel Saint Germain und Quartier Latin an der Rive Gauche, wo in den einstigen In-Cafés wie „Deux Magots" heute nur noch Fotos von Sartre, Beauvoir und Hemingway an die früheren geistigen Zentren der französischen Hauptstadt erinnern, bewundert von Scharen von Touristen, die sieben Euro für einen Café Crème ausgeben. Zunächst ließen sich die jungen Kreativen im historischen Judenviertel zwischen dem Rathaus und der malerischen Place de Vosges nieder. Im Marais mit seinen kopfsteingepflasterten Gassen verwandelten sich binnen kürzester Zeit Mohnkuchen-Bäckereien, koschere Metzgereien und solide Handwerksbetriebe in Modeateliers, schwule Bars und Galerien. Aber wie immer schon tickten die Pariser Uhren schneller, als die Schickeria den Künstlern folgen konnte.

Geblieben sind im Marais nur die Gays. Die Schwulenszene inszeniert vor allem im Sommer auf den Terrassen der Restaurants ein buntes Spektakel und bleibt am liebsten unter sich.

Die Künstlerkarawane ist unterdessen längst weitergezogen, in Viertel, wo die Mieten noch erschwinglich sind, ausgediente Fabrikgebäude Malern als Ateliers und Musikern als Lofts dienen, Architekten waghalsige Umbauten ausrangierter Industrieparks ausprobieren und ein Völkergemisch aus Afrikanern, Arabern und Asiaten für kunterbunte Farben, verführerische Gerüche und exotische Musik sorgt.

Willkommen im Paris des 21. Jahrhunderts. Von den meisten Touristen noch unentdeckt, haben sich die multikulturellen Viertel des 10., 11., 19. und 20. Arrondissements zu den angesagten Quartiers der Hauptstadt entwickelt. Das Dreieck zwischen Belleville, Stalingrad, Oberkampf und Canal Saint Martin ist das neue Eden der Bobos, ausgestattet mit Bars, Kneipen und Cafés, die es im klassischen Paris nie gegeben hat. Die Menschen hier amüsieren sich, wie die Berliner nach der Wende in den Ostbezirken, gerne in schummrigen Kellern, Abrissgebäuden und Häuserruinen.

Die Karawane zieht weiter

Typische Beispiele sind die Cafés „La Mercerie", „Charbon" und „Mecano-Bar", eine frühere Klempnerei im Original-Dekor. Für jemanden wie James Arch ein verabscheuungswürdiges Szenario. „Ich hasse alles, was in ist", erklärt der unbeirrbare Romantiker, der das Venedig ähnliche Viertel rund um den Canal mit seinen geschwungenen Fußgängerbrücken noch aus seiner Kindheit kennt. Im altmodischen Speisesaal seines „Hotel du Nord" tafeln ältere Herren, darunter prominente Schauspieler, Filmproduzenten und Fotografen. Sie verzehren französische Traditionsgerichte, durch dicke Vorhänge abgeschirmt von den Schickimicki-Turbulenzen draußen, wo im „Chez Prune" neumodische Salatkompositionen gereicht werden. Die Häuser sind bonbonrosa, apfelgrün und zitronengelb gestrichen. „Schick ist Schock", heißt die Bobo-Devise. Eingezogen sind hinter den schrillen Fassaden aufstrebende Modemacher wie Stanislassia Klein, deren Modelabel „Stella Cadente" neuerdings für Furore sorgt – Kleidung und Accessoires wie im Zirkus, aus Tüll, Federn, Pelzchen und Seide. Nebenan die Ethnoboutique „Antoine et Lili", wo man auf molligen Kissen auch 20 verschiedene Kir-Sorten probieren kann, die Kunstbuchhandlung „Créativ" und „Ginger Lilly", ein Eldorado für Karibik-Fans.

Der Modetrend Ost stößt in Paris nicht überall auf Begeisterung, vor allem, weil mit der Invasion der wilden Kreativen und ihrer Bobo-Fangemeinde die Mieten innerhalb eines Jahres um 20 Prozent gestiegen sind, der Lärm aus den Bars den alteingesessenen Bewohnern zu schaffen macht und der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoe, selbst ein bekennender Bobo, seinen fahrradfahrenden, auf Rollerblades kurvenden Gleichgesinnten ein Geschenk machte: Zahlreiche In-Straßen im trendigen Pariser Osten sind neuerdings verkehrsberuhigt, die Uferstraßen am Canal am Wochenende für den Verkehr gesperrt – zum Leidwesen der Geschäftsleute und Lieferanten. Das Problem wird sich von selbst erledigen, denn die Bobo-Karawane wird weiter gen Osten ziehen, wie üblich. Viel Platz bleibt ihnen allerdings nichts mehr. Nicht weit von den heutigen Schickeria-Zentren beginnen die hässlichen Hochhaus-Vororte von Paris.

Sabine Heimgärtner[Paris]

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