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Panorama: Aufstand der Verbrecher

Bürgerkrieg in den Straßen von Sao Paolo: Die organisierte Kriminalität greift systematisch öffentliche Einrichtungen an

Sie greifen systematisch Polizeistationen an, Banken und jetzt auch den öffentlichen Verkehr. Sie benutzen Maschinenpistolen, Handgranaten und Schusswaffen aller Art. In Brasiliens größter Stadt São Paolo herrscht Krieg. Am dritten Tag in Folge attackiert das organisierte Verbrechen gezielt die öffentlichen Einrichtungen des Staates. Und seine Diener. Bisher liegt die Zahl der Toten bei 72, darunter fast 40 Polizisten. In inoffiziellen Berichten wird indes schon von mehr als Hundert Toten ausgegangen. Die Bewohner der lateinamerikanischen Wirtschaftsmetropole reagieren geschockt, und verbarrikadieren sich in ihren Häusern. Die Busunternehmen haben den Betrieb eingestellt, das öffentliche Leben liegt brach. Unterdessen schaut der attackierte Staat hilflos zu, wie Busse in Flammen aufgehen, Polizisten, Feuerwehrleute und ganz normale Beamte sowie deren Einrichtungen ohne Unterschied beschossen werden.

Mittlerweile sind rund ein Dutzend Banken Ziel der Angriffe geworden. Und die Banditen dringen gezielt in bessere Stadtteile São Paolos vor. Sie setzen schwere Waffen ein, darunter Maschinengewehre und sogar Granaten aus Armeebeständen. Von „Terrorismus“ spricht Brasiliens sonst um nüchterne Töne bemühte Qualitätszeitung „Folha de São Paulo“. Sie vergleicht die Situation mit der in Bagdad. Ein Vergleich der nahe liegt, angesichts von Bildern verwüsteter Polizeistationen, den Skeletten hunderter ausgebrannter Busse auf den Straßen und den eilig eingerichteten Kontrollposten, die von Polizisten mit Maschinengewehren und schweren Kampfanzügen bewacht werden. Brasiliens Präsident Lula hat versprochen, „alles Mögliche zu tun“, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Hatte er zunächst in offensichtlicher Verkennung der Lage und im Hinblick auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen die verfehlte Bildungspolitik im Bundesstaat São Paolo für den Ausbruch der Gewalt verantwortlich gemacht, schließt er nun den Einsatz des brasilianischen Militärs nicht mehr aus. Die Situation in São Paulo lässt ihm keine andere Wahl, zumal sich die Angriffe auch auf andere brasilianische Städte auszuweiten drohen. „Die Mafia wartet nur darauf, auch woanders loszuschlagen", prophezeit die Anthropologin Alba Zaluar, die mehrere Studien über die Strukturen des organisierten Verbrechens in Brasilien veröffentlicht hat. Betroffen dürfte dann vor allem Brasiliens Touristenziel Rio de Janeiro sein, wo ähnlich krasse Unterschiede zwischen extremer Armut und für europäische Verhältnisse perversem Reichtum herrschen, die viele Beobachter für die tiefere Ursache des Gewaltausbruchs halten. Im Land herrsche ein „unerklärter Bürgerkrieg“, der pro Jahr über 50 000 Menschenleben als Folge sozialer Kontraste fordere, lässt die katholische Kirche verlauten. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Mafia sich auch politischer Rhetorik bedient, die der lateinamerikanischer Guerillagruppen ähnelt.

Tatsächlich verfolgt sie jedoch keine klaren politischen Ziele, außer die Anhäufung von Macht und Geld. Hinter den Attacken steckt das „Primeiro Comando das Capital“ (PCC), was übersetzt „Erstes Kommando der Hauptstadt“ bedeutet. Das PPC ist eine weitverzweigte kriminelle Vereinigung, die vor allem in den Drogen- und Waffenhandel verstrickt ist. Sie reagierte mit den 150 offensichtlich gut organisierten Terror-Angriffen auf die Verlegung von 765 ihrer Anhänger in isoliert gelegene Hochsicherheitsgefängnisse. Die Anführer im Gefängnis sollen die Attacken per Handy angeordnet haben. Zeitgleich zu den Angriffen sind in rund 80 der notorisch überfüllten brasilianischen Gefängnisse Rebellionen ausgebrochen. Die Strafgefangenen haben die Kontrolle über mehrere Dutzend Anstalten übernommen.

Ein Leserbriefschreiber beschreibt in der „Folha de São Paulo“ die völlig außer Kontrolle geratene Situation: „Entweder der Staat erledigt das PCC. Oder das PCC erledigt den Staat.“

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