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Australiens Hauptstadt: Da ist was im Busch

Canberra, Hauptstadt Australiens, wird 100 Jahre alt. Am Reißbrett entstanden, verspottet und geliebt: Porträt eines unbekannten Metropölchens.

Canberra ist in den internationalen Schlagzeilen ein ebenso seltener wie exotischer Gast. Vor zehn Jahren passierte es wegen eines Buschfeuers, das sich ins Stadtgebiet fraß und 500 Häuser verschlang. Vergangenes Jahr geschah es, als die Regierungschefin Julia Gillard vor protestierenden Aborigines in die Arme ihrer Bodyguards flüchtete und dabei fotogen einen Schuh verlor.

Dieses Jahr war es wieder einmal so weit, Anfang Januar. Der Anlass war ein Weltrekord, aufgestellt auf dem Summernats Festival, der Jahreshauptversammlung der australischen Autonarren. Vor den amtlichen Augen eines Guinness-Buch- Richters ließen 69 sehr kräftige Personenkraftwagen ihre Hinterreifen in Rauch aufgehen. Weltgrößter Synchron-Burnout! Geschichte wird gemacht! Die Meldung lief über die Nachrichtenticker der Welt, noch ehe die dicke Rauchwolke über das Stadtgebiet von Canberra hinweggezogen war.

Die australische Hauptstadt ist auch nicht mehr das, was sie mal hätte werden sollen. Findet einer, der maßgeblich an der Entstehung Canberras beteiligt war. Tony Powell leitete von 1974 bis 1985 die Nationale Hauptstadt-Entwicklungskommission (NCDC), deren Ziel es war, den Bau der Stadt zu vollenden und mit Wahrzeichen wie dem Obersten Gerichtshof und der Nationalgalerie zu veredeln. „Die Exzellenz“, sagt er, „die Exzellenz, die in jeglicher Hinsicht bei Canberra eingefordert wurde, in der Kultur, der Architektur, der Infrastruktur, den Bildungsinstitutionen, sie erodiert. Die Stadt wird banalisiert.“

Powell spricht diese Worte ganz unsentimental. Er ist Australier, kein Romantiker. Ein gut gelaunter Glatzkopf von bald 79 Jahren, der schelmisch über die Ränder seiner Brille blickt, wenn er über die unsichtbare Stadt vor seinem Fenster spricht. Die „Gartenstadt“. Deren dominantestes „Bauwerk“ Lake Burley Griffin ist, ein künstlicher See. Deren überbreite, verkehrsarme Straßen flankiert sind von Rasenflächen und Büschen. Dahinter Bäume. Darunter die Dächer der Einfamilienbungalows.

Wer das politische Herz des Kontinents zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, stutzt ein bisschen. So niedrig sind die Bauten. So dicht steht der Busch im sogenannten Stadtgebiet. Von den umliegenden Hügeln aus ist Canberra kaum zu sehen. Stattdessen: Endlose grüne Flächen. Unterbrochen hier und da von ein paar geometrisch angeordneten grauen Linien. Wie in einem dieser PC-Flugsimulatoren Anfang der 1990er Jahre, als die Rechenkapazität noch nicht für eine richtige Skyline reichte.

Dieser Tage begeht die auffallend unauffällige Hauptstadt ihren 100. Geburtstag. Am 12. März 1913 wurde ihr Grundstein gelegt. Zeit für warme Worte?

Canberra wird national wie international nur selten als Paradebeispiel einer Hauptstadt wahrgenommen. Von Politikern wird sie abgelehnt, nur wenige Touristen kommen ihretwegen, und viele Menschen außerhalb Australiens haben noch nie von ihr gehört.

So steht es, schwarz auf weiß, erste Seite, in einer aktuellen Studie des australischen Parlaments. Prunkender Nationalstolz hört sich anders an. Gefeiert werden soll trotzdem. Mit einem Oldtimer-Rennen, nationalen Schäferhund-Meisterschaften und der „Akram-Tendulkar Trophy“, einem Cricketspiel zwischen indisch- und pakistanischstämmigen Freizeitsportlern der Stadt.

Die Aussicht auf diese Feierlichkeiten lässt Tony Powells Mundwinkel amüsiert nach oben wandern. „Wir können halt nicht die ganz spektakulären Attraktionen bieten. Mit Metropolen wie Sydney oder Hong Kong können wir uns nicht messen. Werden es niemals können.“ Dafür biete Canberra eine ganze Reihe von Vorzügen, jeder für sich nicht spektakulär, in ihrer Summe aber unwiderstehlich – für diejenigen, die geduldig genug sind, sich auf die Stadt einzulassen.

Als Erstes ist da das städtebauliche Prinzip, das Canberra den Kalauer-Beinamen „Eine Ansammlung von Vorstädten auf der Suche nach einer Stadt“ eingebracht hat. „Die Idee der Nachbarschaftseinheiten“, erklärt Powell, „bedeutet, dass jeder Stadtteil neben Wohnhäusern auch ein kleines Einkaufszentrum und Restaurants umfasst. Dazu eine Schule, eine Kirche, Parks.“ Alles eben, was es zum guten Leben braucht. Jede dieser neighbourhoods ist für sich genommen autark. Dazwischen: weitläufige Grünflächen. Über den Gärten, Giebeln und Wipfeln: bunte Schwärme von Kakadus. Königssittiche schneiden durch die meist klare, bisweilen neblige, nie aber versmogte Luft. Was, bitte, ist daran zum Lachen? „Das ist doch ein wunderbar naturnaher Ort zum Leben.“

Vorzug zwei: Müssen die Canberrans doch einmal ihre Nachbarschaft verlassen – typischerweise, um ihrer Arbeit im „Parlamentsdreieck“, dem Regierungsviertel, nachzugehen –, warten auf sie breite, blecharme Betonpisten. „In Deutschland sind die Städte über Jahrhunderte gewachsen“, so Powell. „Sie haben sich verdichtet. Die Menschen sind zusammengerückt. Als Canberra entstand, wurde gerade das Auto zum Fortbewegungsmittel der Wahl. Kompaktheit war kein Muss mehr.“

Die lockere Bebauung bedeutet: Die Straßen sind frei, die Wege wirken kurz. „Hier braucht man zehn oder zwanzig Minuten zum Büro. In Sydney kannst du locker zwei Stunden am Tag im Berufsverkehr verlieren.“ Die Goldene Regel australischer Großstädte – Willst du einen Liter Milch, brauchst du einen Liter Benzin – hat ihre Gültigkeit eingebüßt. Die Zeitrechnung ist eine andere. Eine Rush Hour dauert nur eine knappe halbe Stunde. Zu besichtigen morgens gegen halb neun, wenn alle Beamten zugleich an ihre Schreibtische drängen.

Dazu kommt, drittens, dass Canberra mit seinen rund 80 ausländischen Botschaften auffallend multikulturell ist und geradezu weltgewandt im Vergleich zur Schrebergartenspießigkeit im endlosen Vorortlabyrinth Sydneys. Es gibt einen chinesischen Kindergarten. Einen Bioladen mit „Weleda“-Kosmetika und organischer Schokolade made in Germany, zu vier Dollar je 100 Gramm. Auf dem Wochenmarkt „Trash ’n’ Treasure“ wird französische Designermode feilgeboten, ist die Gemüsehändlerin aus Laos ebenso Stammgast wie der vietnamesische Hühnerhändler und das Ehepaar, das einst aus Zypern kam und seit Jahrzehnten schon, Sonntag für Sonntag, Pyramiden aus Aprikosen und Oliven auftürmt. Die Stadt ist ein unprätentiöses Schmelztiegelchen. Ein Rummel der Kulturen, auf dem es sich aushalten lässt für einen Weitgereisten wie Powell, der als junger Mann monatelang durch Südostasien, den Mittleren Osten, durch Europa trampte.

Und nicht nur die interkulturelle, auch die hochkulturelle Kompetenz lässt sich bestens schulen. Nationalmuseum, Nationalbibliothek und Nationalbücherei liegen nur ein paar Känguru-Hüpfer auseinander. Die Australian National University, 1946 gegründet, gilt als Elite-Universität des Landes. In internationalen Hochschulranglisten wird sie regelmäßig auf den vorderen Plätzen gelistet, auf Augenhöhe mit der altehrwürdigen Uni Heidelberg oder dem King’s College London.

Wahrzeichen der Stadt ist das Parlamentsgebäude, im Mai 1988 eingeweiht von Queen Elizabeth II, Königin von Australien und formales Staatsoberhaupt noch immer. „Das New Parliament House“, raunt Powell, „ist das inspirierende, das architektonisch bedeutende Bauwerk von Canberra.“ Es dominiert die Stadt, doch unaufdringlich. Denn wie die Stadt an sich, so ist auch das politische Herz Australiens in die ursprüngliche Topographie eingebettet – und grün gewandet. Ein Grasteppich bedeckt das Gebäude, das sich zwischen wie Bumerangs geschwungene Seitenfassaden schmiegt. Im zweiten Stock des Senatsflügels, dessen endlose Gänge mit tiefen, tiefroten Teppichböden ausgelegt sind, liegen die Redaktionsbüros der Hauptstadtjournaille.

Selbst im Parlamentsgebäude, dem wohl förmlichsten Ort des Landes, zeigt sich die sprichwörtliche Entspanntheit der Australier. Zwar herrscht im Plenarsaal Anzugspflicht. Aber nur so weit das Auge reicht. Blicken die Politiker während einer Sitzung hoch zur Galerie, zu den Journalisten und Fotografen, so hat alles seine Ordnung: Jacketts, Hemden, Krawatten. Untenrum freilich, im Sichtschutz der Balustrade, werden Jeans und ausgelatschte Turnschuhe getragen.

Vom Capital Hill aus, in dessen Hügelkuppe das Parlamentsgebäude hineingebaut wurde, eröffnet sich eine imposante Sichtachse, über das Alte Parlamentsgebäude und den Lake Burley Griffin hinweg bis zum Australian War Memorial am Fuß des Mount Ainslie. Die Achse unterteilt das triangelförmig angelegte Regierungsviertel in zwei gleichgroße Hälften. Die geometrischen Formen der Stadt verraten ihre Wurzeln. Sie entstand am Reißbrett, war erst Vision, dann Wirklichkeit.

Der Grundsteinlegung von 1913 waren lange Geburtswehen vorausgegangen. Am 1. Januar 1901 schlossen sich die sechs britischen Kolonien Australiens zum Nationalstaat zusammen. Melbourne und Sydney aber, schon damals die beiden größten Metropolen down under, waren uneins, wer die würdigere Hauptstadt abgäbe. Die Rivalinnen handelten einen Kompromiss aus: Eine neue Kapitale sollte gebaut werden. In relativer Nähe zu Sydney (aber mit einem Mindestabstand von 100 Meilen!). Im Gegenzug wurde Melbourne (übergangsweise!) Sitz des Parlaments.

Sieben diskussionsreiche Jahre dauerte es, ehe die Ortssuche zugunsten einer pittoresken, hochgelegenen, dabei trockenen und baumarmen Hügellandschaft namens Yass-Canberra entschieden war. Unumstritten war auch diese Entscheidung nicht. Natürlich nicht. „Welches Verbrechen haben wir uns bloß zuschulden kommen lassen“, echauffierte sich etwa der Parlamentarier James Stewart, „dass wir in dieses Niemandsland verbannt werden sollten?“ Doch auch sein Aufschrei konnte nicht verhindern, dass das Niemandsland 1911 zum Australian Capital Territory erklärt und ein internationaler Architektenwettbewerb für den Bau der künftigen Hauptstadt ausgeschrieben wurde.

Der US-Architekt Walter Burley Griffin, der den Wettbewerb schließlich gewann, verkündete selbstbewusst: „Ich habe eine Stadt entworfen, die nichts mit irgendeiner Stadt der Welt gemein hat. Ich habe sie nicht in einer Weise entworfen, die mich erwarten ließ, dass sie bei irgendeiner Regierung der Welt auf Wohlgefallen trifft. Ich habe eine Idealstadt entworfen – eine Stadt, die meinem Ideal einer Stadt der Zukunft entspricht.“

Es sollte noch ein wenig dauern, ehe die Zukunft Einzug hielt. „Als 1913 mit dem Bau von Canberra begonnen wurde, nahm niemand die Stadt ernst“, sagt Powell. Die Erinnerung an das endlose Gezerre um den Nabel der jungen Nation war frisch. Das Vertrauen in die Politik hielt sich in Grenzen. „Die Leute dachten: Das wird eh nix. Und 50 Jahre lang sollten sie recht behalten.“ Zum Mangel an politischer Entschlusskraft gesellte sich – Erster Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg – eine widrige politisch-ökonomische Wetterlage.

Wirklich in Schwung kam Canberras Entwicklung erst Ende der 50er Jahre, als die NCDC auf den Plan trat, die Nationale Hauptstadt-Entwicklungskommission, die Tony Powell später leiten sollte. Eine der ersten Amtshandlungen der Behörde war es, nach jahrzehntelangem Zaudern endlich den See aufzustauen, der nach Griffins Vision das Zentrum der Stadt bilden sollte.

Der NCDC gelang es, Canberra innerhalb von drei Jahrzehnten von einem 40 000-Seelen-Nest auf rund 300 000 Einwohner aufzuplustern. Die Stadt war erwacht, ihr Dornröschenschlaf endgültig Vergangenheit. „Delegationen aus China, aus Ghana, aus aller Welt besuchten uns“, erinnert sich Tony Powell. Alle wollten sie sehen, wie man eine Stadt von Grund auf neu erfinden und mit Leben füllen kann. In China versuchen sie das heute dutzendfach.

Powell findet, im Großen und Ganzen sei das Experiment Canberra geglückt. Ein perfekter Platz für Familien mit Kindern – er und seine Frau haben vier – und für Ruheständler sei es geworden. Ideal auch für Studenten – so sie sich vor allem auf das Studium konzentrieren wollen. Hohes Durchschnittseinkommen. Hoher Lebensstandard. Zwei Stunden bis zu den Snowy Mountains, wo Australiens beste Skipisten warten. Zwei Stunden bis zum Meer.

Die Kehrseite: Die Lebenshaltungskosten sind in den vergangenen Jahrzehnten rapide gestiegen. Heute sind sie fast so hoch wie in Sydney, und das will etwas heißen, die australische Hafen- und Strandmetropole liegt global auf dem 15. Platz. Das, sagt Powell, sei dann doch sehr belustigend: „Für ein 300 000-Einwohner-Nest, mitten im Busch.“ Oder für ein „Schwarzes Loch“, wie viele Australier Canberra wegen des nichtexistenten Nachtlebens auch nennen. Für eine Möchtegernmetropole, in der es einen einzigen australischen Premierminister nach Ablauf seiner Amtszeit hielt. Für eine Stadt, die eher selten jemanden rückhaltlos ins Schwärmen geraten lässt.

Einer, der eine regelrechte Liebeserklärung an die Vielverspottete abgegeben hat, ist der ehemalige Wirtschaftsprofessor der Australian National University und heutige Labor-Abgeordnete Andrew Leigh. „Canberra ist die beste Stadt Australiens“, betitelte er seine Eloge. Er hielt sie im Oktober 2010 in Sydney. Auf dem „Festival der gefährlichen Ideen“.

Markus Wanzeck

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