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Panorama: Bei jedem Toten schließen sie die Augen und sprechen ein Gebet

Im italienischen San Giuliano di Puglia ist die Trauer nach dem Erdbeben groß, aber die Menschen halten zusammen. Die Retter glauben nicht mehr, Überlebende zu finden

Nach dem schweren Erdbeben in Mittelitalien haben neue Erdstöße am Freitag wieder Panik ausgelöst. Beim heftigsten Beben seit Jahrzehnten waren am Tag zuvor viele Menschen ums Leben gekommen, die meisten davon Grundschüler. Auch Vincenzo Cerce war dabei, doch er kam glücklicherweise mit dem Schrecken davon. Seit Donnerstagabend liegt er im Krankenhaus in Termoli. Am Leib trägt er noch sein blaues Fußballtrikot. Von dem will er sich nun nicht mehr trennen. Schließlich ist er mit dem Leben davongekommen.

Als am Donnerstag um 11 Uhr 33 in seinem Heimatort San Giuliano für rund 40 Sekunden die Erde bebte, befand der Junge sich in seiner Schule, dem „Istituto Francesco Jovine“. Mit ihm saßen in der Schulklasse 3a acht weitere Jungen und drei Mädchen. Die Lehrerin hatte gerade, berichtet Vincenzo, mit dem Geographieunterricht begonnen. Da wackelte das Gebäude und er hörte nur noch, wie die Lehrerein rief: „Alle unter die Bänke!“

Vincenzo zögerte nicht lange und spürte, wie das Dach der Schule auf ihn und seine Mitschüler herunterkam. Dann, erzählt der Junge, der wie durch ein Wunder nur einige leichte Verletzungen von dem Zusammensturz des Schuldachs mitbekam, herrschte Stille, und die Luft war voller Staub.

Seine Lehrerin rief nach ihm und den anderen Kindern. „Sie sagte uns, dass sie einen Lichtspalt sieht und dass wir deshalb Luft zum Atmen haben.“ Vincenzo und seine Lehrerin konnten schon nach wenigen Stunden befreit werden. Viele andere seiner Klassenkameraden überlebten das Drama nicht.

Nach dem letzten Stand verloren in Folge des schweren Erdbebens in der süditalienischen Region Molise 29 Menschen ihr Leben. Drei alte Frauen starben in den Trümmern ihrer Häuser. Die anderen Toten sind die Kinder der Schule „Francesco Jovine“.

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag versuchten Dutzende von Ordnungskräften, die Kinder aus den Trümmern des Schulgebäudes zu befreien. Einige Schüler mussten tot geborgen werden, andere starben wenige Minuten nach ihrer Bergung an den Folgen ihrer Verletzungen. Immer wieder, wenn Feuerwehrleute oder Soldaten ein totes Kind hervorholten, nahmen sie ihre Helme ab, schlossen die Augen und sprachen ein kurzes Gebet.

Verletzte Kinder transportierte man nach Bari, Termoli und nach Rom in Krankenhäuser, denn San Giuliano verfügt über eine nur mangelhaft ausgerüstete Krankenstation. Die toten Kinder wurden in der Sporthalle des Ortes aufgebahrt. Hier haben sich nicht nur die Angehörigen eingefunden, sondern auch viele Frauen, die niemanden beklagen müssen. Sie kümmern sich um die Hinterbliebenen, bereiten Tee und Kaffee zu und bringen Essen. „Der Zusammenhalt unter diesen Menschen“, so Gemeindepfarrer Don Ulisse Marinelli, „ist unglaublich groß“.

Unter den Toten, die in der Sporthalle aufgebahrt werden, befindet sich auch eines der beiden Kinder des Bürgermeisters. Er grub mit anderen verzweifelten Eltern die ganze Nacht über ebenfalls in den Trümmern. Als schließlich sein toter Sohn gefunden wurde, gab er nur kurz seiner Trauer nach, weinte und streckte verzweifelt die Arme zum Himmel hoch. Unverzüglich machte er sich weiter an die Arbeit, auf der Suche nach möglichen Überlebenden.

„Dieses Drama hätte verhindert werden können.“ Davon ist Don Ulisse Marinelli überzeugt. Der junge Mann mit dem schwarzen Vollbart ist seit einem halben Jahr der neue katholische Geistliche von San Giuliano. Als in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag seine Ortschaft von einem leichten Beben heimgesucht wurde, rief er sofort den Bürgermeister an. Er bat ihn, am Donnerstag die Schule geschlossen zu lassen. Don Ulisse wies darauf hin, dass seiner Meinung nach das Dach des Schulgebäudes nicht sachgemäß errichtet worden sei. Schon bei einer ersten Besichtung sei ihm aufgefallen, dass „es über Risse verfügte“.

Der Bürgermeister ließ sich aber nicht zur Schließung der Schule bewegen. „Ein großer Fehler“, so der Geistliche, „ein Fehler, der vielen den Tod brachte“.

Don Ulisse war aber nicht der Einzige, der vor der statisch nicht einwandfreien Decke gewarnt hatte. Vor einigen Wochen hatte ein Ingenieur der Stadtverwaltung darauf hingewiesen, dass beim Bau der Decke zuviel Zement verwendet worden sei. Die Decke sei dadurch zu schwer geworden. Deshalb die vielen kleinen Risse. Die Stadtverwaltung wies alle Bedenken von sich.

Schließlich, so wurde argumentiert, sei derjenige Trakt der Schule, der infolge des Bebens ganz in sich zusammenfiel, 1954 errichtet und erst vor einem Jahr gründlich restauriert worden. „Die bauliche Situation“, so das traurige Resumee von Don Ulisse, „wurde vollkommen falsch eingeschätzt.“

Ministerpräsident Silvio Berlusconi besuchte San Giuliano noch Freitagabend.

Thomas Migge[Rom]

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