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Panorama: Ben Rice: Pobby und Dingan: Der Stoff, aus dem die Freunde sind

In Shakespeares "Sturm" surft Prosepero auf der Gischt, die entsteht, wenn Imaginäres und Reales sich verwirbeln. Wir sind der Stoff, aus dem die Träume sind, spricht er.

In Shakespeares "Sturm" surft Prosepero auf der Gischt, die entsteht, wenn Imaginäres und Reales sich verwirbeln. Wir sind der Stoff, aus dem die Träume sind, spricht er. Vielleicht behält der Satz, andersherum gelesen, seine Bedeutung: Wir sind der Traum, aus dem der Stoff ist. Verdichtet findet sich der Gedanke im Luftgeist Ariel, der stofflich ist für einige, ein Hirngespinst für andere, doch präsent auch in seiner Unsichtbarkeit. Vielleicht sind wir, was wir träumen - auch wenn wir nicht wissen, dass wir träumen. Wie im "Sommernachtsstraum". Auch hier ist von Einbildungskraft die Rede: "Imagination bodies forth the form of things unknown." Die Fantasie gibt unbekannten Dingen eine Form, und zwar, wie es in Erich Frieds Übersetzung heißt, durch "des Dichters Feder", die "dem Nichts aus Luft auf Erden einen Wohnsitz, einen Namen leiht."

400 Jahre später. Pobby und Dingan. Zwei Kinder, die Ben Rices Roman den Titel gegeben haben. Wohnsitz: Lightning Ridge, Outback, Australien. Dort kann man einen "Vermisst!"-Anschlag finden, auf dem steht: "Kellyanne Williamsons Freunde. Beschreibung: Erfunden." Kellyanne ist ungefähr acht Jahre alt und todkrank. Sie hat ihre besten Freunde verloren, eben Pobby und Dingan. Die sind schwer zu finden, denn es gibt sie nicht. Nur Kellyanne kann sie hören oder sehen. Nur sie weiß, dass Dingan einen riesigen Opal im Bauchnabel trägt und Pobby am liebsten Violet Crumble-Riegel isst. Prospero wüsste das vielleicht auch oder Ariel.

Es ist fraglich, ob es in Lightning Ridge, dieser tristen Ansammlung aus Opalschürferhäusern, ein einziges Buch von Shakespeare gibt. Es ist kein Ort für Poeten und andere Imaginationskünstler. So muss sich Kellyanne von ihrer Umwelt, besonders von ihrem Bruder Ashmol, als "Knalltüte" beschimpfen lassen. Irgendwann geht ihr Vater zum Schein und dem Familienfrieden zuliebe auf das ein, was er für ein Spielchen hält. Er nimmt Pobby und Dingan in die Tiefe seiner Opalmine mit, vergisst sie aber dort und kommt ohne sie zurück. Gegenteilige Beteuerungen überzeugen Kellyanne nicht. Durch den Verlust von Pobby und Dinan beginnt die Lebensluft aus ihr zu weichen; die Luft, aus der sie ihre Gestalten formt, der Sauerstoff, aus dem die Freunde sind. "Ihr Gesicht hatte die Farbe von versteinertem Lehm": Niemand weiß, ob das Provinzkrankenhaus einen solchen Patienten retten kann. Nur Ashmol kann seine Schwester retten (wie auch seinen Vater, der durch seine Achtlosigkeit mächtig in Schwierigkeiten gerät). Aber dazu muss Ashmol etwas finden, das es nicht gibt: Pobby und Dingan. Er muss selbst zur "Knalltüte" werden. Er muss beginnen zu glauben. Gelingt ihm das, wird er vielleicht in einer magischen Nacht zur Mine radeln und im Schacht einen Opal finden können, der aus einem Bauchnabel stammt. Prospero könnte am Finger einen solchen Stein tragen, der mit seinem irisierend-hypnotischen Farbspiel wie die mineralisierte Phantasie selbst ist. Das dem Buch vorangestellte Motto aus dem "Australian Geographic" lautet: "Das Geheimnis der Farbe des Opals liegt nicht in dessen Substanz, sondern in dessen Absenzen".

Der so geglückt nach Metaphern schürft, heißt Ben Rice und kommt aus England. Dieses Debüt ist nicht zuletzt deshalb so bemerkenswert, weil hier ein junger Londoner, Jahrgang 1972, mal nicht nur nicht vom Erwachsenwerden in der Großstadt mit Musik, Fußball, Partys, Sex und all dem schreibt, sondern auch ohne den landesüblichen Zwang zum Lustigsein auskommt. Sofern Goldmann die Sammlung seiner jungen Erzähltalente von der Insel weiterhin so konsequent und vielseitig ausstattet, wird man noch ein paar Steine im Brett, auf dem die Neuerscheinungen stehen, funkeln sehen. "Pobby und Dingan" ist einer davon.

Ben Rice erzählt mit geradlinigem Mut zur Message und viel Naivität eine eigentlich ganz altmodische Parabel über Glaube, Liebe, Hoffnung - und das alles auf 150 Seiten. Einer der Tricks, deren sich Rice bedient, um das Altmodische nicht altbacken wirken zu lassen, besteht darin, die stets spürbare Wucht von Allegorie und Pathos durch einen Sprachmix von kindlicher Einfachheit und skurrilem Hinterwäldlertum radikal down to earth zu halten. Wie gesagt: von Shakespearescher Eloquenz keine Spur. Ashmol versucht sich am zeitgenössischen Coolsprech und produziert dabei einen Hillbilly-Slang, den zu entwerfen Rice offensichtlich viel Spaß hatte. Kellyannes Andersartigkeit manifestiert sich auch in ihrem Sprachgebrauch, der Adjektive wie "vielleicht-tot" enthält. Zuweilen überfordert das die ansonsten einwandfreie Übersetzung. "Fairdinkum?" z. B. klingt im Englischen eben anders als "Echt?" im Deutschen.

Mit seinem kindlichen Blick und der einfachen, originellen Sprache ist "Pobby und Dingan" für Kinder genauso gut wie für Erwachsene. Tatsächlich ist es eins von jenen Büchern, die solche Unterscheidungen obsolet machen. Aber Vorsicht: Ben Rice kennt nicht nur die Macht der Phantasie, sondern auch die des letzten Absatzes. Wer das Buch seinen Kindern vorlesen möchte, sollte vorher Schluss machen, den Rest allein im Bett lesen und dann vielleicht-weinen.

Joachim Otte

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