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Berufszocker in China: Die Spielmacher

„Sie brauchen uns“, sagt Meng Siyuan, „und trotzdem fühlen sie sich überlegen.“ Der Chinese ist Teil des Game-Proletariats. Für Kunden aus dem Westen arbeitet er sich stundenlang durch untere Level komplexer Computerspiele – nur auffallen darf das niemandem.

Um halb sieben, eigentlich sollte Feierabend sein, löst Meng Siyuan die linke Hand von der Tastatur und reißt sein Handy ans Ohr. „Schatz, tut mir leid, es wird später heute“, sagt er. „Wir kämpfen noch.“ Ein paar geflüsterte Zärtlichkeiten, dann tut Siyuans Hand wieder das, was sie sechs Tage in der Woche und neun Stunden am Tag tut, mit seltenen Urlaubspausen und vielen Überstunden: Sie tötet.

Ein karger Büroraum in Hefei, Zentralchina, eine dieser Riesenstädte, deren Namen kaum jemand kennt, obwohl hier fünf Millionen Menschen leben. Sonnenblenden sperren das Tageslicht aus, unter Neonröhren starren zwei Dutzend junge Chinesen auf ihre Computer. Das Reich, das hinter ihren Bildschirmen liegt, nennt sich Azeroth. Es existiert nicht, dieses Reich, es ist die Fantasiewelt des Online-Rollenspiels „World of Warcraft“, aber für mehr als zehn Millionen Spieler in der ganzen Welt ist Azeroth ein vertrauter Ort, allemal ein vertrauterer als Hefei.

Was Siyuan und seine Kollegen in Azeroth tun, ist nicht ganz leicht zu erklären. Der Kampf, den sie gerade führen, spielt sich in einer Palastruine ab, Farne überwuchern rissiges Mauerwerk, rötlicher Fackelschein beleuchtet einen weitläufigen Saal. Ein blauhäutiges Riesenmonster schwingt in der Mitte des Raums seine Fäuste, eingekreist von zwei Dutzend gegnerischen Spielfiguren, die den Tastaturbefehlen von Siyuan und seinen Kollegen gehorchen. Von allen Seiten attackieren sie ihr Opfer, die einen feuern schwere Geschütze aus der Distanz, die anderen greifen aus nächster Nähe an, wieder andere kümmern sich um die Verletzten, sie sind eine eingespielte Truppe, man sieht es ihrer Kampftechnik an. Als der blaue Riese nach einer guten Stunde endlich zu Boden sinkt, hallt kurzer Jubel durch den Büroraum, die Beute wird eingesackt, dann zieht die Truppe weiter in den nächsten Saal, zum nächsten Gegner.

Die Welt Azeroth besteht aus mehreren Kontinenten, sie wächst mit den Spielerweiterungen, die der US-Hersteller Blizzard regelmäßig auf den Markt bringt. Stets werden sie binnen weniger Tage weltweit millionenfach verkauft, kontinuierlich kommen so neue Länder, neue Städte, Wüsten, Wälder, Berge und Höhlen hinzu, durch die sich die Spieler mit Zeppelinen, Schiffen, unterirdischen Bahnen oder Reit- und Flugtieren fortbewegen, im Alleingang oder in Kampfgruppen, deren Mitglieder sich im realen Leben oft nie begegnet sind. Es ist ein komplexes Universum, in dem Außenstehende leicht die Orientierung verlieren.

100.000 Berufsspieler gibt es weltweit

Aber auch für Eingeweihte ist nicht jeder Teil von Azeroth ohne Weiteres zugänglich. Wer etwa die „Kriegshymnenschlucht“ betreten will, muss mit seiner Spielfigur mindestens das zehnte Erfahrungslevel erreicht haben, das „Arathi-Becken“ öffnet sich erst ab Level 20, das „Auge des Sturms“ ab Level 61. Nur vom Hörensagen kennen die allermeisten Spieler die Palastruine, in deren nächstem Saal Siyuan und seine Mannschaft jetzt einen weißbärtigen Zauberer in die Zange nehmen. Wer hier spielen will, muss weit aufgestiegen sein in der „World of Warcraft“-Hierarchie, er muss das derzeit höchste Kampfniveau erreicht haben, Level 90.

Zu Level 90 führen zwei Wege. Man kann in nächtelangen Sitzungen Monster töten, Beute einsacken, Waffen kaufen, größere Monster schlachten, mehr Beute anhäufen, bessere Waffen erwerben, Level um Level um Level. Belohnt wird der Aufstiegskampf mit Erfahrungspunkten und mit Gold, der virtuellen Währung von Azeroth. Beides zusammen eröffnet nicht nur neue Spielmöglichkeiten, es steigert auch das Ansehen innerhalb der Warcraft-Gemeinde, in der exklusive Waffen, rare Ausrüstungsgegenstände und Ehrentitel in etwa denselben sozialen Zweck erfüllen wie im wirklichen Leben Autos, Kleidung und akademische Grade.

Für den Aufstieg braucht es Zeit, Geduld und Können. Wem das eine oder das andere fehlt, dem steht ein zweiter Weg offen: Er kann sich die Arbeit abnehmen lassen – von Profispielern wie Meng Siyuan. Als zahlender Kunde überlässt man ihnen einfach für eine Weile die eigene Spielfigur. Es kostet 139 Dollar, sich in acht Tagen von Level 1 auf Level 90 hochspielen zu lassen. Wer es eiliger hat oder Extrawünsche anmeldet, zahlt bis zu 500 Dollar.

Obwohl die Spielehersteller diese zweite Option untersagen, wird sie laut einer Studie der Weltbank von jedem vierten Online-Rollenspieler regelmäßig genutzt. Freizeitzocker aus westlichen Industrieländern sollen im Jahr 2009 im Schnitt 370 US-Dollar pro Kopf ausgegeben haben, um für echtes Geld virtuelles Spielgold zu kaufen oder ihre Charaktere von professioneller Hand auf ein höheres Level hieven zu lassen. Fast ausnahmslos aus Niedriglohnländern kommen dagegen die rund 100 000 Berufsspieler, die solche Dienste anbieten, 80 Prozent von ihnen sind Chinesen. Den Gesamtumsatz dieses bizarren Marktes schätzte die Weltbank 2009 auf drei Milliarden US-Dollar – das ist etwa ein Viertel dessen, was im selben Jahr die eigentliche Computerspielindustrie umsetzte.

Auf seiner Trainingsjacke steht "Borussia Portmund"

Die Firma Alpha, für die Siyuan hauptberuflich Monster tötet, belegt zwei Großraumbüros im sechsten Stock eines schmucklosen Plattenbaus, rundum erstreckt sich ein Industriegebiet, das eine gute halbe Stunde Autofahrt westlich des Stadtzentrums liegt. Insgesamt 80 Vollzeitspieler arbeiten hier, fast alle sind männlich, kaum einer ist älter als 25, sie tragen Turnschuhe, nach denen der Raum riecht. Einer hat eine Trainingsjacke mit Borussia-Dortmund-Aufdruck an, offenbar hergestellt in China, statt „Dortmund“ steht auf dem Rückenteil „Portmund“. Ebenfalls leicht missglückt ist die Schreibung des englischen Worts „Deligence“, das in großen Lettern ein Plakat an der Stirnseite des Raums ziert: Fleiß.

Etwas anders sieht es im zweiten Raum aus, der Vertriebsabteilung, hier arbeiten überwiegend junge Frauen. Eine von ihnen nennt sich Ariel, ihr Englisch ist fließend, sie beantwortet täglich Anfragen von Kunden aus der ganzen Welt. Auf die rund ein Dutzend englischsprachigen Websites, die Alpha betreibt, werden Spieler im Netz durch Google-Suchwörter gelenkt – auf Dauer hat sich diese Methode mehr bewährt als die Werbestrategie, getötete Monster im Spiel so aufzutürmen, dass der Leichenberg die Web-Adresse des Anbieters buchstabiert.

Ariel hat noch nie von Angesicht zu Angesicht mit einem Ausländer gesprochen, aber durch das kleine Chat-Fenster im Kundendienstbereich der Alpha-Websites hat sie einiges über die Welt erfahren. Deutsche, sagt sie, seien sehr höfliche Menschen, Amerikaner hingegen neigten zur Ungeduld, wenn es Probleme mit ihren Bestellungen gebe. Weil 75 Prozent der Firmenkunden Amerikaner sind und in Ariels Chat-Fenster früher allzu oft Sätze wie „Where’s my fucking gold, bitch???“ aufleuchteten, haben ihr die Alpha-Techniker inzwischen denselben Schimpfwortfilter installiert, der auch bei „World of Warcraft“ unflätige Begriffe aus den Unterhaltungen ausblendet. Ariel sagt, sie schlafe seitdem deutlich besser.

Im Chat-Fenster hat sich heute bisher ein knappes Dutzend Kunden gemeldet, die meisten sind zufrieden, nur einer, ein Kanadier, will Kritik loswerden, er findet, die Warenübergabe hätte diskreter ablaufen können. Der Handel mit Spielwährung und Waffen wird bei „World of Warcraft“ ähnlich konspirativ abgewickelt wie im echten Leben Drogendeals: Käufer und Verkäufer steuern ihre Spielfiguren in eine dunkle Ecke von Azeroth, damit niemand zusieht, während die Ware den Besitzer wechselt. Bezahlt wird per Überweisung, auf Bankkonten außerhalb von Azeroth.

Niemand weiß, mit welchen Spionagemethoden der Hersteller Blizzard solche spielinternen Deals aufspürt, aber immer wieder werden aufgeflogene Händler kurzerhand aus dem System gelöscht – eine Art virtuelle Todesstrafe, verhängt bei Verstößen gegen die Nutzungsbedingungen. Natürlich sind es, auch dies eine Parallele zum Drogenhandel, eher die Anbieter, die hingerichtet werden, nicht ihre zahlreicheren und zahlungsstärkeren Kunden. Die aber lassen sich auch nicht gerne erwischen – ein erschummeltes Spielergebnis kann in der Warcraft-Gemeinde so rufschädigend sein wie ein erflunkerter Doktortitel in der Politik.

Manche sollen Millionen mit der Spielerei verdient haben

Die Spieler im Nebenraum stehen inzwischen kurz vor dem Abschluss ihres Arbeitstages, das letzte Monster taumelt angeschlagen durch die Palastruine. Es wird keine nennenswerte Beute herausspringen bei diesem Kampf, hier geht es um etwas anderes: Es sind ausländische Gastspieler in der Runde. Sie zahlen für das Privileg, bei einer exklusiven Schlacht mitkämpfen zu dürfen, die sie ohne Siyuan und seine Kollegen keine zehn Minuten überstehen würden.

„Wir können Monster besiegen, gegen die 99 Prozent aller Spieler chancenlos sind“, sagt Tang Jingwei, der Firmengründer, den hier alle nur den „großen Wei“ nennen. Er ist ein schmaler Mittzwanziger, der nie Wirtschaft studiert hat, selbst die Schule brach er ab, um Berufsspieler zu werden. „Er ist Millionär“, flüstern seine Angestellten, als der große Wei den Raum betritt.

Rund 3000 Aufträge wickelt die Firma in einem typischen Monat ab, im März etwa lag ihr Umsatz bei 90 000 US-Dollar. Damit gehört Alpha unter den Hunderten, wenn nicht Tausenden von Firmen, die in China ähnliche Geschäfte betreiben, eindeutig zu den größeren. Nur die wenigsten Konkurrenten sind in der Lage, Webseiten und Kundenservice auf Englisch anzubieten, die meisten sind winzige Zockerkollektive aus der Provinz, die in stumpfer Routinearbeit Spielwährung anhäufen, um sie billig an größere Anbieter wie Alpha weiterzuverkaufen – oder an Zwischenhändler, die Gold horten, um mit den Kursschwankungen der virtuellen Währung Spekulationsgeschäfte zu betreiben. Die Zulieferer werden im Warcraft-Jargon „Goldfarmen“ genannt, Kleinstbetriebe, die oft im Schichtsystem von Studenten betrieben werden. In den chinesischen Medien machte vor ein paar Jahren sogar der Fall eines Gefängnisdirektors die Runde, der seine Häftlinge gezwungen hatte, in Nachtschichten Monster zu töten und Spielgold zu schürfen.

Weil die Goldfarmer im Spiel leicht an ihren immergleichen Bewegungsabläufen zu erkennen sind, ziehen sie sich mitunter den Spott, oft auch den Hass anderer Spieler zu. Die Region von Azeroth, in der man sie am häufigsten antrifft, wird abschätzig „Chinatown“ genannt. Mitunter fallen westliche Spieler hier sogar über Goldsammler her, Videos solcher Attacken kursieren im Netz, sie tragen Titel wie „Chinese gold farmers must die!“.

Ein amerikanischer Soziologe, der das Vokabular solcher Hassbotschaften untersucht hat, stellte beunruhigende Parallelen zur US-Kolonialliteratur des 19. Jahrhunderts fest, in der chinesische Niedriglöhner gerne als „Ratten“, „Gewürm“ oder „Ungeziefer“ verunglimpft wurden.

Siyuan und seine Kollegen sind keine Goldfarmer, dafür sind sie zu gut, Spieler ihres Kalibers werden für exklusivere Aufgaben eingesetzt. Aber auch sie spüren mitunter die Arroganz, mit der ihnen westliche Spieler in Azeroth begegnen. „Get a real job!“, ruft ihnen manchmal jemand im Vorbeigehen zu.

„Das sind oft dieselben Leute, die uns dafür bezahlt haben, ihre Charaktere hochzuspielen“, sagt Siyuan seufzend. Es ist Feierabend, er sitzt mit zwei Kollegen in einem billigen Restaurant im Stadtzentrum, es gibt Froschragout und Bier. „Sie brauchen uns, trotzdem fühlen sie sich überlegen.“

Mit Ende 20 lässt die Reaktionsgeschwindigkeit nach

Zwischen 400 und 900 Euro im Monat verdient Siyuan mit seiner Arbeit, je nachdem, wie viele Überstunden er macht. Für einen jungen Mann in Hefei ist das kein schlechter Verdienst. Siyuan mag seine Arbeit, auch wenn er weiß, dass sie ihn nicht ewig ernähren wird. „Mit Ende 20 lässt die Reaktionsgeschwindigkeit nach“, sagt er. „Irgendwann wird man zu langsam zum Kämpfen.“

Siyuan ist 26. Ein bis zwei Jahre will er den Job noch machen, danach wird er zurückgehen in seine Heimatstadt nahe der mongolischen Grenze, um das kleine Restaurant zu übernehmen, das seiner Mutter gehört. „Sie fragt seit Jahren, wann ich mir endlich richtige Arbeit suche. Genau wie meine Freundin.“

Siyuans Kollegen nicken, sie kennen die ständigen Nachfragen von Verwandten, die nicht begreifen, wie ein Computerspiel ein Arbeitsplatz sein kann. Alle in der Firma haben Geschichten von Profizockern gehört, die von ihren Eltern zwangsweise in psychiatrische Anstalten eingeliefert wurden, um sie mit Elektroschocks von ihrer vermeintlichen Spielsucht heilen zu lassen.

Die Weltbank kam in ihrer Studie über virtuelle Märkte zu einem optimistischeren Schluss: Sie empfahl die Berufsspielerei ausdrücklich als wirtschaftliches Erfolgsmodell für Schwellenländer. Der Grund: Im Unterschied etwa zum globalen Kaffeemarkt, bei dem nur knapp acht Prozent des Gesamtumsatzes in den Herstellerländern verbleiben, verdient am Geschäft mit der Berufsspielerei inzwischen kaum noch ein westlicher Zwischenhändler. Handelten in den 90er Jahren, als der virtuelle Markt entstand, meist noch amerikanische Anbieter mit dem billigen Spielgold, das Chinesen für sie schürften, so ist es in den vergangenen Jahren Firmen wie Alpha gelungen, fast die gesamte Verwertungskette des Markts unter chinesische Kontrolle zu bringen. „World of Warcraft“ mag nur ein Spiel sein – aber der chinesische Siegeszug, der in diesem kriegerischen Universum stattgefunden hat, ähnelt verblüffend jener allgemeinen Kräfteverschiebung, die im realwirtschaftlichen Verhältnis zwischen China und dem Westen im Gange ist.

Wie weit sie gediehen ist, lässt sich eine halbe Stunde östlich des Alpha-Plattenbaus beobachten, im Stadtzentrum von Hefei, wo im 33. Stock eines funkelnagelneuen Büroturms die Firma „MicroPay“ residiert. Auch hier wird „World of Warcraft“ gespielt, von 30 Vollzeitzockern, die durch die Glasfronten ihres Penthouse-Büros die gesamte Stadt überblicken können.

Der Geschäftsführer und Firmengründer heißt Wang Jun, er war früher selbst Spieler. Wang Jun ist Ende 20, ein smarter, einnehmender Typ mit quietschgelben Turnschuhen, der gerne über seine Bewunderung für Mark Zuckerberg spricht, den Facebook-Gründer. „Ich bin überzeugt“, sagt er, „dass die nächste große Internet-Idee aus China kommen wird. Warum nicht sogar aus einer Stadt wie Hefei?“

Dann erwähnt Wang Jun betont beiläufig, dass seine Firma gerade eine erste US-Filiale eröffnet hat – sie expandiert nach Amerika. Allerdings nicht mit Spielgold, sondern mit dem eigentlichen Hauptgeschäftsfeld von „MicroPay“: Die Firma hat ein Online-Bezahlsystem für Smartphone-Spiele entwickelt, geeignet für minderjährige Spieler ohne Bankkonto. In China wird das System derzeit aggressiv vermarktet.

Die Abteilung mit den Warcraft-Spielern, lässt Wang Jun im Gespräch durchblicken, habe am Gesamtumsatz der Firma keinen nennenswerten Anteil, er betreibe sie eigentlich nur noch nebenbei, aus Sentimentalität. Weil sie ihn an seine eigene Zeit als Spieler erinnere – und an das Berufsspielgeschäft, mit dem er das Startkapital für seine jetzige Firma verdient hat.

„Inzwischen“, sagt Wang Jun, „spiele ich lieber mit Geld.“

Erschienen auf der Dritten Seite.

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