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Panorama: Besessen von Ängsten

Mircos Mörder ist zu lebenslanger Haft verurteilt worden – das Gericht stellt eine besondere Schwere der Schuld fest

Wie nach jedem Prozesstag packt Bärbel Pfisterer am Ende ihre große bunte Tasche und geht mit gesenktem Kopf aus dem Saal. Sie hat sich dunkel gekleidet. „Ich möchte zeigen, dass ich mit den Eltern trauere“, sagt sie leise. Bärbel Pfisterer war bei fast allen Prozesstagen. Jedes Mal ist sie extra aus Dortmund gekommen. Jetzt weint sie. „Das Urteil macht den Jungen auch nicht mehr lebendig“, bringt sie stockend hervor. Sie hat Mirco nicht gekannt. Aber sie hat selbst einen Sohn. „Der stieg in ein Auto, als er etwas älter als Mirco war, weil er mich suchte.“ Zum Glück sei der Mann der ihn mitnahm, wirklich hilfsbereit gewesen. „Aber ich musste immer denken, was hätte passieren können.“ Sie hat auch mit applaudiert, als Richter Herbert Luczak um 13 Uhr 4 fertig war mit der Urteilsverkündung. Den Applaus untersagt der Richter aber sofort: „Bitte wahren Sie die Würde des Gerichts. Es darf nicht der Eindruck entstehen, die Kammer hätte mit diesem Urteil eine öffentliche Erwartungshaltung befriedigen wollen.“

Zwei Minuten dauert die Urteilsverkündung, fast eine ganze Stunde die Begründung. Der 45-jährige Olaf H. wird wegen Entführung, sexuellen Missbrauchs und Ermordung des zehnjährigen Mirco aus Grefrath zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht stellt eine besondere Schwere der Schuld fest. Damit wird der Verurteilte erheblich länger als 15 Jahre im Gefängnis bleiben.

„Was das Kind während der letzten Stunde seines Lebens durchlitten hat, ist von derartigem Gewicht, dass es sich beim Strafmaß auswirken muss“, sagt Luczak. Das Motiv für die Tat sei auch in der Hauptverhandlung letztlich nicht feststellbar gewesen. Aber: „Es gibt Anhaltspunkte, dass die Tat sadistisch motiviert war – beweisbar ist das nicht.“ Das Gericht habe aber keinen Zweifel daran, dass die Tat geplant gewesen sei und Olaf H. am 3. September 2010 schon mit dem Vorsatz in seinem Dienstwagen umhergefahren sei, ein Kind zu fangen und zu töten. Die Richter schließen den vom psychiatrischen Gutachter vermuteten sadistischen Exzess nicht aus: „Das Maximum dessen, was der Angeklagte eingeräumt hat, ist das Minimum dessen, was geschehen ist.“ So hält das Gericht die brutalste und weitgehendste Variante unter den zahlreichen Versionen des Olaf H. für diejenige, die der Wahrheit am nächsten kommt. Auch wenn der Manager sie später widerrufen hat. Dass Stress im Beruf die Tat verursacht haben soll, wie es Olaf H. behauptet hatte, verwirft das Gericht als unwahr. Der 45-Jährige habe nach seinem Urlaub erst wenige Tage gearbeitet und am Tattag freigehabt. Die Behauptung, er sei von seinem Chef am Telefon „zusammengefaltet“ worden, sei widerlegt. Das Telefonat habe es nicht gegeben. Auch sei nicht anzunehmen, dass der Manager bei einem Intelligenzquotienten von 138 im Beruf überfordert gewesen sei. Allerdings sei er von Ängsten besessen und wenig stressresistent. Die Konflikte mit seinem Chef hätten möglicherweise sein Selbstwertgefühl destabilisiert. Der Richter bezeichnete es in der Urteilsbegründung zwar als „möglich“, dass H. sich beruflich gekränkt gefühlt und nach einem Opfer gesucht habe, um sich durch dessen Demütigung ein „Allmachtsgefühl“ zu verschaffen. Gleichwohl sei das eigentliche Tatmotiv letztlich „nicht feststellbar“ gewesen. Durch pädophile Neigungen sei der bislang unbescholtene Angeklagte nicht aufgefallen. Ein solches primäres sexuelles Interesse an Kindern sei laut psychiatrischem Gutachter bei H. auch „wenig wahrscheinlich“. Als Richter Luczak um 13 Uhr 04 das Strafmaß verkündet, huscht über das Gesicht von Mircos Mutter ein erleichtertes Lächeln.

„Die besondere Schwere der Schuld war ein Meilenstein auf dem Weg der Trauerarbeit für die Eltern“, sagt ihre Anwältin Gabriele Reinartz. Sie dürfte zudem die Haftdauer von Olaf H. um mehrere Jahre verlängern. „Dass er zum Motiv geschwiegen hat, wird die Familie aber ein Leben lang begleiten.“ Gegenüber auf der Anklagebank zeigt Olaf H. keine Regung. mit dpa/AFP

Heike Ahlen[Krefeld]

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