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Boulder, Colorado: Am Fuß der grünen Berge

USA und Klimaschutz – geht das? Ja! Boulder in Colorado ist eine Musterstadt. Die Bürger zahlen dafür freiwillig Steuern.

Die Sache mit der offenen Eingangstür war ein Fehler. Der Galeriebesitzer hatte sie nur nebenbei erwähnt, weil er so Kunden im Winter anlockt. Doch seitdem das „Wall Street Journal“ über seine Tür berichtet hat, steht das Telefon nicht mehr still. „Wie können Sie nur! So eine Energieverschwendung“, beschimpfen die Anrufer den freundlichen Herrn mit dem graumelierten Haar. Jetzt will er lieber gar nichts mehr sagen – nicht mal seinen Namen.

Normalerweise wäre so eine offene Tür nicht der Rede wert gewesen, schon gar nicht in den USA. Aber diese hier führt hinaus in die Fußgängerzone von Boulder, eine Stadt mit 100 000 Einwohnern und 30 000 Studenten im Bundesstaat Colorado. Am Rande der Rocky Mountains, eine halbe Autostunde von Denver entfernt, findet zurzeit eine grüne Revolution statt, die für Amerika so erstaunlich ist, dass selbst die großen Zeitungen ihre Reporter nach Boulder schicken. Denn während in Washington Demokraten und Republikaner um konkrete Maßnahmen für den Klimaschutz ringen, reicht es in Boulder schon lange nicht mehr, seinen Müll zu trennen und mit dem Rad zur Arbeit zu fahren, um als „green“ zu gelten.

Schließlich hat die Stadt ein ehrgeiziges Ziel: Sie will dem Rest des Landes beweisen, dass die Vorgaben des Kyoto-Abkommens auch in den USA erfüllt, ja sogar übertroffen werden können – in einem Bundesstaat, der zwei Drittel seiner Energie mit Kohle produziert. Im Vergleich zu 1990 sollen in Boulder 2012 sieben Prozent weniger Treibhausgase in die Luft geblasen werden. Fünf Prozent sind das Kyoto-Ziel.

Wenn wir das nicht schaffen, wer dann? Diesen Satz hört man oft in Boulder. Der Anblick der majestätischen Rocky Mountains und der weiten Prärien ist so imposant, dass er wie eine Verpflichtung wirkt, dieses Paradies zu erhalten. An der globalen Erwärmung zweifelt in Boulder im Gegensatz zu zwei Drittel der Amerikaner kaum einer. Was nicht verwundert: An der Universität arbeiten so viele Klimaforscher wie sonst nirgends in den USA. Sie teilen sich den Campus mit einigen Physik-Nobelpreisträgern. In der Fußgängerzone kaufen Hippies und Yuppies ein. Am Boulder Creek, der mitten durch die Stadt führt, joggen Freizeitsportler, und an den Felsen am Stadtrand trainieren Bergsteigerprofis.

Umgeben ist die Hochburg der Demokraten von grünen Wiesen oder, wie die Einheimischen sagen, von „open space“. Insgesamt 485 Quadratkilometer Wiesen und Wälder hat der Landkreis seit den 60er Jahren aufgekauft, um zu verhindern, dass die prächtige Landschaft verbaut wird. Zwei Studien haben kürzlich bestätigt: Nirgendwo in den USA sind die Immobilienpreise so stabil geblieben wie in Boulder. Und nirgendwo sind die Menschen so glücklich wie hier.

Den Grundstein für die Insel der Glückseligen legten Goldgräber vor gut 150 Jahren. Schnell und beständig wuchs das Dorf zur Stadt heran. Mitte der 70er Jahre war der Highway 36, die Hauptverkehrsader der Stadt, sogar an Sonntagen verstopft. Doch anstatt den Highway auszubauen und dafür Häuser und Vorgärten zu opfern, entschied sich Boulder für eine damals höchst unamerikanische Lösung: Linienbusse.

Es war nicht das erste Mal, dass die Einwohner der Stadt einen anderen Weg als ihre Landsleute einschlugen. Den wohl bemerkenswertesten Beweis für ihren Eigensinn erbrachten sie zusammen mit den übrigen Einwohnern Colorados 1972, als sie sich weigerten, die Olympischen Winterspiele von 1976 auszutragen. Nachdem eine Gruppe von Geschäftsleuten das Großereignis mühsam für den konservativen US-Staat gewonnen hatte, stimmten die Bürger in einem Referendum trotzig dagegen. Es sei ihnen zu teuer, ließen 60 Prozent das Internationale Olympische Komitee wissen. Am Ende fanden die Spiele in Innsbruck statt.

Wer daraus den Schluss zieht, die Einwohner der ehemaligen Goldgräberstadt seien nicht nur eigensinnig, sondern obendrein auch geizig, der irrt. Um ihr Paradies zu erhalten, waren die Bürger vor vier Jahren nämlich zu einem weiteren sehr unamerikanischen Schritt bereit: In einem Volksentscheid stimmten sie für die Einführung einer lokalen Energiesteuer – sensationell in einem Land, in dem viele Bürger nicht einmal Beiträge für eine gesetzliche Krankenversicherung zahlen wollen und die Treibhausgas-Emissionen pro Kopf mehr als doppelt so hoch sind wie in Europa.

Damit nicht genug. Als die Stadt nach zwei Jahren befand, dass die Energiesteuer nicht ausreiche, um die geplanten Umweltprogramme zu finanzieren, akzeptierten die Bürger ohne großes Murren eine Verdopplung der Steuer. Ob dies allerdings ein Beweis dafür ist, dass alle Einwohner „very green“ sind oder sich so mancher Skeptiker nur nicht getraut hat, seinen Unmut zu äußern, ist freilich schwer zu sagen. Fest steht: Nach dem Malheur des Galeriebesitzers will keiner mehr mit Journalisten reden.

Insgesamt 1,8 Millionen Dollar bringt die erste und bislang einzige CO2-Steuer der USA Boulder jedes Jahr ein. Mit dem Geld finanziert die Stadt ein Programm mit dem vielversprechenden Namen „Climate Action Plan“. Heißt übersetzt: Fast alle Straßen haben Fahrradwege, fast alle Einwohner ein Jahresticket für den Bus. Freiwillige ziehen von Haus zu Haus und verteilen Sparglühbirnen – ein Geschenk der Stadt, ebenso wie der energiesparende Weihnachtsschmuck oder die kostenlosen Energieprüfungen.

In unzähligen Wettbewerben treten außerdem Schulen, Unternehmen oder ganze Stadtviertel gegeneinander an. Wer reduziert seine CO2-Bilanz am meisten? Wer kommt am häufigsten mit dem Rad zur Schule? Per Code auf dem Fahrradhelm wird das an manchen Schuleingängen sogar schon elektronisch erfasst. Und natürlich recyceln die Menschen in Boulder. Für 7,50 Dollar die Stunde arbeiten Studenten als Müllsortierer. Warum sie das machen? „Ich wollte einen sinnvollen Job, der zu meinem Studium passt“, sagt Kristin Nowakowski, Studentin der Umweltwissenschaften, während sie am Fließband steht und weißes Papier von Pappe und Zeitungspapier trennt. Die 18-Jährige hatte Glück, denn ihr Job ist begehrt: 150 Bewerber musste die campuseigene Recyclingstelle im vergangenen Jahr ablehnen.

„Alles gut, aber nicht gut genug“, sagt Jonathan Koehn. Der 37-Jährige sitzt im Dushanbe Teahouse am Boulder Creek. Draußen joggt die Stadt am Bach entlang, drinnen trinkt er Chai-Tee. Koehn, studierter Meeresbiologe, war früher einmal Delphintrainer in Florida, Touristenführer im Grand Canyon und Umweltaktivist in Arizona. Seit vier Jahren ist er Energie-Beauftragter von Boulder und könnte sich in seiner Funktion gerade die Haare raufen. Erst vor ein paar Wochen ist in Pueblo, 140 Meilen von Boulder entfernt, ein neues Kohle-Kraftwerk ans Netz gegangen. „Das Ding macht einen Großteil unserer Anstrengungen mit einem Schlag wieder zunichte“, sagt Koehn und wird richtig laut.

Sein Ärger ist verständlich: Das vergrößerte Kraftwerk erhöht den mit 84 Prozent ohnehin schon hohen Kohleanteil im Strom und somit auch Boulders CO2-Bilanz. Die Stadt selbst kann nichts dagegen tun. Sie hängt am Tropf des Energieversorgers Xcel Energy. Solche Emissionen lassen sich nicht einfach wegradeln. Sie sind aus eigener Kraft kaum zu regulieren.

Andere Städte haben bessere Bedingungen

Neidisch blickt Koehn daher auf andere US-Städte, deren geographische Bedingungen für erneuerbare Energien weitaus günstiger sind. Seattle etwa bezieht fast 90 Prozent seiner Energie aus Wasserkraftwerken, Kalifornien produziert 33 Prozent seiner Energie aus Wind und Sonne. „Für Städte wie Seattle oder San Francisco sind die Kyoto-Ziele ein Kinderspiel“, sagt Koehn. Aber für Boulder ist so eine Vorgabe Schwerstarbeit. Windenergie? Selten weht hier ein Lüftchen. Solarstrom? Die Berge überschatten am Nachmittag die halbe Stadt.

So waren die Emissionen in Boulder nach eineinhalb Jahren Climate Action Plan seit Jahrzehnten zum ersten Mal rückläufig, „doch die Kyoto-Ziele hätten wir nie erreicht“, räumt Koehn ein. Die Stadt musste erkennen: Allein mit Erziehung und Geschenken lässt sich keine grüne Revolution verwirklichen. Das Ergebnis der kostenlosen Energieprüfungen etwa war enttäuschend. „Die Hausbesitzer waren zwar beeindruckt, wie viel Energie sie einsparen könnten, aber als sie hörten, wie viel es kostet, ihr Haus zu isolieren oder eine neue Heizung einzubauen, haben zwei Drittel gar nichts gemacht“, erzählt Koehn. Warum auch? Eine Kilowattstunde Strom kostet in Boulder gerade mal neun US-Cent, das ist nur ein Drittel des deutschen Durchschnittspreises für Strom.

Aber deshalb aufgeben? Koehn schüttelt den Kopf. Nein, sie wollen das Kyoto-Ziel am 31. Dezember 2011 unterboten und Grund zum Feiern haben. Wenn es Boulder nicht schafft, wer dann? Gerade hat die Stadt Maßnahmen beschlossen, gut isolierte Häuser zu fördern. Hilfe erhält die Stadt ausgerechnet von ihrem Energieversorger. Als wollte sich Xcel Energy für die vielen Kohlekraftwerke entschuldigen, hat das Unternehmen für ein Pilotprojekt Boulder auserkoren: Alle Haushalte sind seit kurzem mit modernen Messgeräten an ein intelligentes Stromnetz angeschlossen.

Damit ist Boulder die erste Smart-Grid-City der Welt. „Früher war Strom immer so etwas Abstraktes, jetzt kann ich am Computer genau sehen, wie viel der Wasserfall im Garten verbraucht“, sagt Susan Osborne. Den Computer schaltet die 65-Jährige inzwischen nachts aus, der Wasserfall läuft nur noch an schönen Tagen. Um ein Viertel hat sie ihren Stromverbrauch senken können. Osborne arbeitete als Stadtplanerin, bis sie Bürgermeisterin wurde – ein Amt mit Karrierechancen. Ihren Vorgänger Shaun McGrath hat Barack Obama im vergangenen Jahr ins Weiße Haus berufen.

Grün ist das neue Gold

Auch an anderer Stelle gibt die Stadt ihre Erfahrungen weiter. Mit Fahrrad, Schlafsack und Isomatte im Gepäck ist Jonathan Koehn vergangenen Dezember zum Weltklimagipfel nach Kopenhagen geflogen – trotz heftiger Proteste. „Einige Umweltschützer wollten wohl, dass ich mit dem fliegenden Teppich reise und nicht in ein Flugzeug steige“, sagt Koehn.

Er gab seine Erfahrungen weiter. „Andere Städte sollen von den Lektionen, die wir gelernt haben, profitieren.“ Und natürlich wollte Koehn den Staatsmännern aus aller Welt beweisen, dass Grün das neue Gold ist – selbst wenn Kritiker im Rest des Landes das Gegenteil behaupten. Boulder will sie eines Besseren belehren. Um die Stadt haben sich wichtige staatliche Forschungszentren angesiedelt, jeden Monat gründen sich neue Start-Up-Unternehmen, viele von ihnen haben sich auf erneuerbare Energien spezialisiert.

Die Einwohner von Boulder sollen in Zukunft ihren eigenen Strom produzieren – mit Solarenergie, trotz Schattenlage. Denn Boulder wäre nicht Boulder, wenn man nicht auch dafür schon eine Lösung ersonnen hätte. Auf Supermarktdächern und freien Feldern plant man die Entstehung von „Solargardens“. Jeder kann in den Gärten so viele Solarzellen aufstellen, wie er will. Der produzierte Strom kommt dann über das intelligente Stromnetz direkt ins eigene Haus.

Auf einer Wiese vor der Stadt ist der erste Sonnengarten fertig, allerdings ein Jahr später als geplant. Schuld war jedoch kein Energieriese, sondern die Natur – genauer gesagt 14 Präriehunde. Sie mussten für den Bau der Anlage behutsam umgesiedelt werden. Jetzt bauen sie ihre Erdhügel auf der Wiese nebenan.

Ann-Kathrin Eckardt

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