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6. August: Im Kampf gegen die Jahrhundert-Brände in Russland gibt es bisher kaum Erfolgsmeldungen. In Moskau ist die Sonne nur noch zu sehen, wenn der Wind günstig steht. Die meiste Zeit liegt beißender Rauch über der Stadt.

© AFP

Update

Brände in Russland: Atemlos in Moskau

Die Situation in Moskau verschärft sich weiter, die Menschen ringen nach Luft. Deutschland will 100.000 Atemmasken als Soforthilfe schicken.

Der Zug 002 „Roter Pfeil“, Abfahrt 23:55 Uhr vom Leningrader Bahnhof in Moskau, ist selbst zu normalen Zeiten gut besetzt. Derzeit ist der Andrang so groß, dass Kurzentschlossene nur noch die Chance haben, direkt auf dem Bahnhof und kurz vor Abfahrt eine zurückgegebene Platzkarte zu ergattern.

Kurzentschlossene Moskowiter, die es nach St. Petersburg drängt, gibt es derzeit viele. Fast scheint es, die Bewohner flüchten aus ihrer Stadt. Pauschalreisen an beliebte Ziele wie Ägypten, Montenegro oder die Türkei sind ausverkauft. Ausländische Botschaften, auch die deutsche, sind geschlossen. Wacker sind dagegen Touristen, die, mit Mundschutz versehen, unverdrossen die Sehenswürdigkeiten anschauen. Moskau, wo nach offiziellen Angaben zwölf, inoffiziell indes bis zu fünfzehn Millionen Menschen leben, ist in diesen Tagen vor allem für kranke Menschen eine Hölle. Beißender Rauch zieht in die Lungen, die Menschen atmen schwer. Eine dicke Dunstglocke aus Rauch, Ruß und Gift hat sich über die Stadt gelegt, immerfort gespeist durch die nicht enden wollenden Brände, die einen großen Teil Russlands in ein Inferno verwandeln. Über der Stadt lastet zudem seit Wochen eine Hitze mit Temperaturen von bis zu 40 Grad. Der Wind treibt den Rauch und die Asche der Waldbrände geradewegs nach Moskau hinein. Seit Tagen bläst er konstant aus Südost: aus den Regionen Rjasan, Wladimir und Nischni Nowgorod, wo bereits tausende Hektar Wald in Flammen aufgegangen sind. Deutschland kündigte an, Russland als Hilfe 100 000 Atemschutzmasken und schweres technisches Gerät zur Verfügung zu stellen. Einzelne Brandherde wurden inzwischen schon in nur zwei Kilometer Entfernung vom Moskauer Autobahnring gesichtet. Zwar besteht aus Sicht von Katastrophenschützern bisher keine direkte Gefahr für Russlands Hauptstadt und ihre Bewohner. Die treibt derzeit dennoch nur ein Gedanke um. Weg, möglichst schnell und möglichst weit. Auf die Datschen im Nordwesten des Moskauer Gebietes oder zu Freunden und Verwandten in die angrenzenden Regionen: Twer, Smolensk oder St. Petersburg. Dort ist es mit derzeit 33 Grad zwar auch nicht sehr viel kühler. Und der Finnische Meerbusen – ein Randgewässer der Ostsee – ist alles andere als sauber. Aber die Luft ist rein. In Moskau lag die Schadstoffbelastung am Wochenende sechsmal höher, als es zulässig ist.

So ähnlich muss es bei dem Großen Brand 1812 gewesen sein, als Napoleon mit seinen Truppen nahte. Im Zentrum und im Südosten nimmt man die Umwelt nur schemenhaft wahr. Hochhäuser und Kirchen verstecken sich hinter einem Vorhang aus beißendem graugelben Rauch, den Windböen für Bruchteile von Sekunden aufreißen und sofort wieder schließen. Ganz schlimm wird es, wenn sich kein Lüftchen regt. Die Sicht beträgt dann nur 100 Meter, oftmals kann man nicht einmal erkennen, ob die Ampeln auf rot oder auf grün stehen. Der Smog ist so dicht, dass er sogar die Verkehrsgeräusche dämpft: Autos und Busse schieben sich nahezu lautlos durch die gespenstisch wirkenden Straßen.

Die Menschen fühlen sich matt und abgeschlagen, haben Kopfschmerzen und Augenflimmern. Der Hals fühlt sich roh an, als sei eine schwere Erkältung im Anmarsch, es kratzt, die Stimmbänder sind gereizt, die Schleimhäute in Mund und Nase ebenso. Ständig hat man den Geschmack von schwarz verbranntem Brot im Mund. Und immer Durst. Doch selbst, wer eine eisgekühlte, unberührte Wasserflasche leert, spürt einen Brandgeschmack im Mund, der sich so hartnäckig auf die Zunge gelegt hat, dass ihn kein frisches Wasser vertreiben kann. Menschen mit chronischen Erkrankungen der Atemwege, oder Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen machen dieser Tage die Hölle durch. Etwa 2500 Neuzugänge täglich melden Krankenhäuser. Berichten zufolge soll sich im Juli die Sterblichkeit um 50 Prozent erhöht haben. Die Moskauer Stadtregierung will die offizielle Statistik, in der die Todesfälle nach Ursachen aufgelistet werden, erst später veröffentlichen und glaubt offenbar, mit Schweigen die Menschen beruhigen zu können.

Oberbürgermeister Juri Luschkow machte tagelang Urlaub. Wo und wie lange, das war Staatsgeheimnis. „Falls wir es für zweckmäßig erachten“, so formulierte Luschkows Pressesprecher Sergej Zoj, „werden wir es zu gegebener Zeit mitteilen“. Diese zynischen Sätze kamen nicht gut an, nicht bei der Bevölkerung und möglicherweise auch nicht an anderer Stelle. Luschkow kehrte am Sonntag aus dem Urlaub zurück. Wer ihn dazu bewegt hat, es weiß niemand.

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