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Brasilien: Panzer in den Straßen von Rio

Eliteeinheiten eröffnen in Brasilien das Feuer auf Drogenbanden, die eine Favela kontrollieren – als Vorbereitung auf die WM und Olympia. Der Staat erobert vor laufenden Kameras verlorenes Terrain zurück.

Militärpolizisten springen aus Panzerfahrzeugen, ihre Gesichter sind schwarz bemalt, sie feuern mit automatischen Gewehren, suchen Deckung hinter Mauervorsprüngen, während über ihnen Hubschrauber kreisen. Die andere Seite verschanzt sich, erwidert kurz das Feuer und zieht sich dann zurück. Sie antwortet, indem sie „weiche Ziele“ angreift: willkürlich Busse überfällt, die Insassen ausraubt und die Fahrzeuge in Flammen setzt. Auch Privatwagen trifft es mittlerweile.

In Rio de Janeiro, der „Wunderbaren Stadt“, ist die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und der Drogenmafia wieder einmal eskaliert. Bisher sind rund 40 Menschen ums Leben gekommen, die meisten von ihnen laut Polizei Drogengangster, allerdings starb auch ein 14-jähriges Mädchen. Das Neue in diesem jahrzehntealten Konflikt ist aber nicht die hohe Zahl der Toten, sondern dass die Polizei den Befehl zu haben scheint, die Banden dauerhaft aus ihren Territorien zu vertreiben.

So drangen am Donnerstag 200 Beamte in Panzerfahrzeugen in das Armenviertel Villa Cruzeiro im Norden Rios ein. Dutzende Bandenmitglieder suchten daraufhin das Weite. Ein Kamerateam des Fernsehsenders Globo filmte aus einem Helikopter, wie zumeist Jugendliche in Shorts und mit Gewehren in die benachbarte Favela Complexo do Alemão flüchteten. Polizeichef Rodrigo Oliveira, wegen seiner fülligen Gestalt auch „der Bulle“ genannt, schrie auf der anschließenden Pressekonferenz: „Vila Cruzeiro gehört jetzt dem Staat!“ Und Rios größte Zeitung, „O Globo“ titelte: „D-Day.“

Zur Unterstützung der Polizeioffensive hat der Gouverneur von Rio de Janeiro, Sérgio Cabral, 800 Soldaten angefordert. Brasiliens Präsident Lula will sie ihm in den nächsten Tagen schicken.

Es scheint, als ob Rio etwas gegen das Image als gemeingefährliche Stadt tun will. Denn 2014 findet die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien statt – Ort des Finales ist natürlich Rios Maracanã-Stadion. Und nur zwei Jahre später wird Rio die Olympischen Spiele ausrichten. Kritiker dieser Entscheidungen verweisen immer wieder auf die prekäre Sicherheitslage in Rio. Die Stadt ist nicht nur eine der schönsten der Welt ist, sondern eben auch auch eine der mörderischsten.

Das Ausmaß der Gewalt wurde einer breiten Öffentlichkeit erstmals 2008 bewusst, als der Actionfilm „Tropa de Elite“ den Goldenen Bären auf der Berlinale gewann. Zwar monierten die Kritiker die Perspektive des Films – er erzählt aus der Sicht eines Elitepolizisten –, doch Regisseur José Padilha schildert den Kampf in Rios Favelas ultrarealistisch. Die in dem Film porträtierte Elite-Einheit „Bope“ ist auch jetzt im Einsatz. Sie hat den Ruf, extrem rücksichtslos zu sein und sich um rechtsstaatliche Prinzipien nicht zu scheren, ihr Markenzeichen ist ein Totenkopf. Allerdings gilt sie im Gegensatz zum restlichen Polizeikorps auch als wenig korrupt. Sozusagen als Film zur aktuellen Lage läuft derzeit „Tropa de Elite II“ in den Kinos, nachdem der erste Teil schon Zuschauerrekorde gebrochen hatte.

Hinter der jetzigen Eskalation stecken allerdings sogenannte Friedenseinheiten. Diese wurden von der Polizei nach heftigen Kämpfen in 14 Favelas stationiert. Gleichzeitig investierte der Staat dort auch in die Infrastruktur, woraufhin sich die Lage deutlich beruhigte. Das passte den Drogenbossen nicht, und sie ordneten teils aus dem Gefängnis an, dass Polizeistationen und Busse angegriffen werden sollten. Dabei gelang es den Drogengangs auch, ein Fahrzeug der „Bope“ in Brand zu stecken. Auf diese Attacken antwortet der Staat nun, indem er massiv zurückschlägt, „Das ist ein Krieg“, meint Rios Gouverneur Cabral martialisch und lässt verkünden, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, mit den Gangs ein für alle Mal aufzuräumen.

Es bleibt allerdings fraglich, ob die sozialen Probleme von Armut und Drogenkonsum mit polizeilichen Mitteln gelöst werden können. In den 1000 über die gesamte Stadt verteilten Favelas lebt rund eine Million Menschen. Das Hauptmerkmal dieser Armensiedlungen ist die Abwesenheit des Staates. Um Schulen, Gesundheitsversorgung, Wasser und Strom kümmern sich die Bewohner im besten Fall selbst. Das Machtmonopol aber besitzen verschiedene Drogenbanden, die die Favelas in blutigen Häuserkämpfen unter sich aufgeteilt haben. In sogenannten „Invasionen“ versuchen sie regelmäßig, sich gegenseitig Favelas abzunehmen. Unter diesen Kämpfen leiden dann vor allem die Bewohner der Siedlungen, die zumeist in Häusern aus hohlen Ziegelsteinen wohnen, die von den Kugeln der hoch modernen Waffen wie Butter durchschlagen werden. Das Gleiche gilt, wenn die schießwütige „Bope“ anrückt.

Zwei große Drogenbanden beherrschen Rios Szene: das Comando Vermelho („Rotes Kommando“) und die Amigos dos Amigos („Freunde der Freunde“). Aus abgehörten Telefonaten schließt die Polizei, dass sie sich zurzeit aus taktischen Gründen verbündet haben.

Die Gangs rekrutieren ihre Mitglieder unter den perspektivenlosen Jugendlichen der Armenviertel. Die meisten von ihnen wissen zwar, dass ihre Lebenserwartung als Drogengangster gering ist – wenn einer älter als 30 Jahre wird, gilt er als Opa –, aber die Aussicht auf ein bisschen Geld, eine Waffe, Macht und auch ein Mädchen scheint anziehender zu sein.

Lange Zeit griff die Polizei die Gangs nur dann an, wenn die Gewalt in den Favelas außer Kontrolle zu geraten schien oder wenn sie zur Beruhigung der Öffentlichkeit symbolisch Präsenz zeigen wollte. Nun scheint sie die militärische Strategie des Raumgewinns zu verfolgen und eine Favela nach der anderen einnehmen zu wollen.

„Tropa de Elite“, brasilianischer Spielfilm, Regie: José Padilha. Goldener Bär, Berlinale 2008, DVD, 15,95 €.

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