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Blick auf eine Favela in Rio de Janeiro

© rtr

Brasilien: Weil er Dealer fotografierte? Deutscher Urlauber in Rio angeschossen

Ein deutscher Tourist wurde in einem Armenviertel von Rio de Janeiro angeschossen, nachdem er Fotos von bewaffneten Drogendealern gemacht hatte. Ein Minderjähriger gestand die Schüsse später bei der Polizei - doch dass er tatsächlich der Schütze ist, bezweifeln sogar die Polizisten.

Wurde ein deutscher Tourist in Rio de Janeiro angeschossen und lebensgefährlich verletzt, weil er Fotos von Drogendealern machte? Die genauen Umstände der Tat sind noch unklar, werfen aber erneut ein schlechtes Licht auf die Sicherheitslage in der Stadt. Am Freitagmittag besuchte der 25-Jährige mit einem Freund die bekannte Favela Rocinha. Sie ist mit 70.000 Einwohnern die größte Einzelfavela Rios und seit Jahren ein beliebtes Touristenziel. Reiseveranstalter bieten „Safaris“ durch das Viertel an, das in weiten Teilen eine urbane Infrastruktur aufweist. Es gibt dort auch eine Reihe von Hostels. Die Rocinha galt zudem als relativ sicher, seit dort im September 2012 eine Einheit von Rios Befriedungspolizei UPP stationiert wurde. Die Aufgabe der 700 Mann starken Truppe: die Drogengangs unter Kontrolle halten, die die Favela jahrzehntelang beherrscht hatten.

Die beiden Deutschen waren am Freitag auf eigene Faust in der Rocinha unterwegs und sollen sich in einem Viertel bewegt haben, das als Roupa Suja bekannt ist. Nach Angaben der UPP machten sie dort Fotos von bewaffneten Dealern. Später seien sie von einem der Dealer in einer Gasse überrascht worden, hätten sich erschrocken, und seien geflüchtet. Der Dealer hätte daraufhin geschossen. Die Kugeln trafen den 25-jährigen Deutschen in einen Arm, die Brust und die Leber. Ein Favelabewohner habe ihn kurz darauf gefunden und die Polizei alarmiert. Der Deutsche wurde ins städtische Krankenhaus Miguel Couto im nahen Stadtteil Gávea gebracht und notoperiert. Er liegt dort auf der Intensivstation, die Ärzte bezeichneten seinen Zustand als ernst aber stabil. Er soll wieder bei Bewusstsein sein.

Nach den Schüssen kontrollierte die Polizei die Ein- und Ausgänge der Favela und präsentierte am Sonntagmorgen einen Verdächtigen. Es handelte sich um einen Minderjährigen. Er war mit einem Motorradtaxi zur Wache gekommen, um die Tat zu gestehen. Die angebliche Tatwaffe hatte er in einer Plastiktüte dabei. Wenige Stunden später widerrief er sein Geständnis. Die Drogendealer hätten ihn bedroht und gezwungen, sich als Täter auszugeben, damit die Polizeiaktionen in der Favela enden. Der Minderjährige kannte weder den genauen Tatort, noch passte er zur Beschreibung des Freundes des Opfers. Nun steht er unter Polizeischutz, damit die Dealer sich nicht an ihm rächen. Bei Suchaktionen in der Nähe des Tatorts fanden Ermittler eine Granate und Munition.

In der Favela Rocinha agieren – wie in allen von der UPP besetzten Favelas – weiterhin Drogengangs. Sie haben allerdings ihre Taktiken geändert, verkaufen ihre Ware mobil und agieren nur noch mit Kleinkalibern oder unbewaffnet aus dem Schutz der labyrinthischen Gassen heraus. Wenn sie eins nicht wollen, dann, dass man Fotos von ihnen macht, die von der Polizei zu ihrer Identifizierung verwendet werden könnten. Der Autor dieses Textes wurde selbst in einer „befriedeten“ Favela in Rios Zentrum mit einer Schusswaffe bedroht und genötigt, die Bilder seiner Kamera vorzuzeigen, während zwei Beamte der UPP aus sicherer Entfernung zusahen. Finden sich die Dealer auf einem der Bilder wieder, nehmen sie meist den Kamerachip an sich. Doch generell gilt, dass solche Situationen unberechenbar sind.

Was bedeutet der Fall für die allgemeine Sicherheitslage in Rio zwei Wochen vor Beginn des Confederation-Cups und knapp einen Monat vor dem Weltjugendtag? Tatsächlich hat die Präsenz der UPP die Zahl der Schießereien in den Favelas drastisch reduziert. Waffen sieht man dort kaum noch, und viele Gangmitglieder haben sich in Favelas außerhalb von Rios Zentrum abgesetzt, in denen es keine UPP gibt. Weil diese abgelegenen Viertel von den Medien ignoriert werden und für ausländische Besucher praktisch unsichtbar bleiben, spielen sie in der Sicherheitsstrategie des Staats keine Rolle. Dort hat die Zahl der Verbrechen teils drastisch zugenommen. Außerdem herrschen dort zumeist Polizeimilizen, die Schutzgelder erpressen.

In Rios zentralen Stadtvierteln ist hingegen ein Anstieg der Straßenkriminalität zu beobachten. Dort sind nun wegen der Polizeipräsenz in den Favelas vermehrt Dealer als Kleinkriminelle aktiv. Laut brasilianischem Institut für öffentliche Sicherheit (ISP) lag allein die Zahl der Diebstähle bei Touristen in Rio diesen Januar um 67 Prozent höher als noch im Januar 2012. Sie war mehrere Jahre lang rückläufig gewesen. Allerdings ist Statistiken in Brasilien nur sehr bedingt zu trauen. Allein die Dunkelziffer für Diebstähle – also für Fälle, die nicht angezeigt werden, weil man sich als Opfer nichts davon verspricht – wird von manchen Experten auf über 90 Prozent geschätzt.

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