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Panorama: Britischer Zug rast in Auto: Sechs Tote

Retter suchten die ganze Nacht nach Opfern – stellte ein Selbstmörder sein Fahrzeug auf die Schienen?

Ein idyllisches Landsträßchen. Mit einem dieser idyllischen Bahnübergänge, die wir von Modelleisenbahnen kennen. Automatisch, mit rotem Warnlicht – zwei halbe Schranken sperren die Straße ab. „Übergang freihalten“ steht auf dem Schild. Darunter ein gelber Kasten mit Nottelefon. Doch das nützte nichts mehr, als am Samstag der Plymouth Express in ein Auto raste, das zwischen den Schranken auf dem Bahnübergang an der Ufton Lane bei Ufton Nervet westlich von Reading stand. Sechs Tote und elf Schwerverletzte forderte das Eisenbahnunglück.

Die Ufton Lane führt vom „Winning Hand Pub“ zum River Kennet hinab. Zuvor kreuzt die Straße die Schnellzuglinie von London Paddington nach Plymouth. „In meinem ganzen Leben ist hier noch nichts passiert“, sagte Bauer Richard Benyon. Am Sonntagmorgen begannen Autokräne, verdrehte und aufgeschlitzte Eisenbahnwagen aus seinem Feld zu heben. Über dem durch die Kollision mit dem Hochgeschwindigkeitszug völlig zertrümmerten PKW baute die Polizei ein gelbes Zelt auf: Spurensicherung.

Warum hat der PKW dieses schwerste britische Eisenbahnglück seit dem „Potters Bar Rail Crash“ im Mai 2002 verursacht? Mit rund 160 Stundenkilometern raste der Schnellzug im Dunkeln in das Auto. Acht Wagen und die Lokomotive wurden bei dem Aufprall ineinandergeschoben, verdrehten sich, wurden aufgeschlitzt und kippten um. Hunderte Passagiere taumelten auf Bauer Benyons Feld. Mindestens die Hälfte der 300 Zugpassagiere wurde verletzt.

Warum das Auto auf dem Bahnübergang stand, steht nun im Mittelpunkt der Untersuchungen. Handelte es sich um einen Selbstmordversuch? Die Britische „Transportpolizei“ schließt die Möglichkeit nicht aus, nahm aber keine Stellung zu der Theorie, dass der PKW absichtlich auf die Schienen gefahren wurde.

Der stellvertretende Polizeichef Andrew Trotter bestätigte nicht, ob ein Toter im Auto gefunden wurde. Aber das Feld sah gestern ganz wie ein Tatort aus. „Kriminalbeamte kämmen das Gebiet nach Hinweisen durch“, sagte Trotter. Er bestätigte, dass es einen Augenzeugen für den Unfall gibt. Trotter bezeichnete es als ein Wunder, dass sich so viele Menschen in Sicherheit bringen konnten.

„Die Lichter gingen aus. Es herrschte Chaos und Panik, Menschen schrien. Es war stockfinster. Die Leute konnten ihre Handys nicht finden, um ihre Angehörigen anzurufen“, berichtete der BBC-Journalist John Saunders, der selbst als Passagier mit dem Unglückszug reiste. „Ein Mann wurde im Dunkeln über meine Schulter geschleudert. Erst war es still von dem Schock. Dann fingen alle zu schreien und zu rufen an“, berichtete der Student Henry Howe. Die ganze Nacht hindurch wurde unter Scheinwerferlicht nach Opfern in den Zugtrümmern gesucht. Das Royal Berkshire Hospital in Reading behandelte 61 Menschen, 15 von ihnen mussten gestern Abend noch im Krankenhaus bleiben.

In den vergangenen fünf Jahren sind in Großbritannien 42 Menschen bei Zugunglücken getötet worden. 1999 kamen 31 Menschen ums Leben, als ein Zug kurz nach Paddington ein rotes Signal überfuhr und mit einem entgegenkommenden Schnellzug zusammenstieß. Sieben Menschen wurden 2002 beim „Potters Bar“-Unglück getötet. Das führte zu einer völligen Revision der Instandhaltungsprozeduren für das überalterte britische Schienennetz. Doch die BBC warf dem Schienennetzbetreiber „Network Rail“ erst in dieser Woche wieder chronische Sicherheitsmängel im Schienennetz vor.Laut dem „Observer“ steigt zum erstenmal seit dem Paddington-Unglück wieder die Zahl der Vorfälle, bei denen Züge rote Signale überfahren. Offenbar setzen die Fahrer eigens eingebaute neue Blockiersysteme außer Kraft. Das britische Eisenbahnsystem kann mit den dramatisch gestiegenen Fahrgastzahlen nicht fertig werden: Züge, Fahrpläne und Schienen sind chronisch überfüllt.

Aber bisher gibt es keine Hinweise, dass Sicherheitsmängel zu dem neuen Unglück führten. „Es ist zu früh, etwas zu sagen. Aber die Regierung wird dieses Unglück mit allen Aspekten eingehend untersuchen lassen“, versicherte Verkehrsminister Alastair Darling.

Für den Verband der Eisenbahnbenutzer müssen vor allem zwei Fragen beantwortet werden: Warum der PKW auf den Schienen stand. Und warum die Kollision den Zug so dramatisch zum Entgleisen brachte.

Vor zwei Wochen hatte ein Bericht die rund 9000 nur durch Schranken gesicherten Bahnübergänge in Großbritannien als „größte Gefahrenquelle des heutigen Schienennetzes“ bezeichnet. Doch in Ländern wie Deutschland und Japan gibt es noch viel mehr solcher freizugänglichen Übergänge. Die britische Sicherheitsbilanz gab bisher keinen Anlass zu besonderer Sorge.

„Ich benutze diesen Bahnübergang jeden Tag“, sagt Richard Benyon. „Natürlich kann man um die Schranke herumfahren, wenn man wirklich so dumm ist. Aber ich glaube nicht, dass jemand einen solchen Fehler machen könnte.“

Matthias Thibaut

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