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Brunner-Prozess: Ehrliche Falschaussagen

Die Ereignisse von Solln: Forscher wissen, warum Augenzeugen wie im Brunner-Prozess einen Vorgang verschieden schildern.

Ein Mann, der mitten im Leben stand, ist unter dramatischen Umständen gewaltsam getötet worden. Doch wie war der Ablauf in den alles entscheidenden Minuten genau? Vier Augenzeugen sagen aus – und präsentieren vier Versionen des Geschehens. Alle sind sie in sich stimmig und plausibel. Was wie die Aussagen der Zeugen im Brunner-Prozess anmutet, ist der Kern eines der wichtigsten Werke der Filmgeschichte: Akira Kurosawa, der große Meister des japanischen Films, erzählt 1950 in „Rashomon“ vom Tod eines edlen Samurai – und lässt den Zuschauer auf der Suche nach der Wahrheit verstört zurück. Lange vor den ersten Wissenschaftlern belehrte uns Kurosawa darüber, dass das menschliche Gedächtnis nicht wie ein Videorecorder funktioniert und jedes Geschehen minutiös aufzeichnet. Wir möchten gern glauben, dass Falschaussagen immer Lügen sind, die geschickte Ermittler, Richter – oder Krimileser – mit kriminalistischem Spürsinn entlarven. Wir möchten uns daran halten können, dass es reicht, die Glaubwürdigkeit einer Person zu ermitteln, die mit ihrem guten Charakter zusammenhängt.

Forscher wissen: Irren ist noch weiter verbreitet als das Lügen. Spätestens seit der Debatte über verfälschte Missbrauchserinnerungen aus der Kindheit, die in den 90er Jahren geführt wurde, ist die unabsichtliche Falschaussage zum Thema geworden. Kognitionspsychologen interessiert schon länger, unter welchen Umständen das Gedächtnis uns besonders leicht im Stich lässt. „Dass wir einen Ablauf wirklichkeitsgetreu wiedergeben können, ist umso unwahrscheinlicher, je beiläufiger wir ihn wahrgenommen haben“, sagt die Psychologin Anett Galow, die sich am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité wissenschaftlich und praktisch mit der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen befasst. Nur am Rande nehmen Menschen eine Situation wie die am S-Bahn-Gleis in Solln zum Beispiel wahr, wenn sie selbst gerade anderweitig beschäftigt sind und die Dramatik einer Situation in ihrem Vorfeld noch nicht erkennbar ist. Meist bekommen sie allenfalls Ausschnitte des Gesamtgeschehens wirklich selbst mit – und das in wenigen Minuten oder gar Sekunden. „Je mehr Informationen pro Zeiteinheit auf sie einströmen, desto mehr Fehler passieren später bei der Wiedergabe der Situation“, sagt Galow.

Auch die Zeit, die zwischen Ereignis und Befragung verstreicht, sorgt für Verfälschungen. Vor allem, wenn in der Zwischenzeit die Medien sich eines spektakulären Falls angenommen haben. Und das Vertrackte ist, dass sie meist bei der späteren Befragung viel Vertrauen in das eigene Erinnerungsvermögen haben – mehr, als es verdient. Jeder akzeptiere zwar, dass Menschen sagen, etwas falle ihnen beim besten Willen nicht mehr ein, sagt der Mannheimer Kognitionspsychologe Edgar Erfelder, der sich wissenschaftlich mit der Entstehung fehlerhafter Aussagen beschäftigt. „Aber wenn ein glaubwürdiger Zeuge behauptet, ein bestimmtes Ereignis sicher erinnern zu können, dann scheinen Zweifel an seiner Aussage unangebracht.“ Tatsächlich steigt die Korrektheit einer Aussage Studien zufolge keineswegs mit der subjektiven Sicherheit des Zeugen. Denn das Gehirn ist kreativ, es füllt von Anfang an die Lücken des Erlebten mit Erwartungen, Gedanken und Stereotypen. Kindergartenkinder, die man vorgewarnt hatte, gleich komme eine besonders tollpatschige Person zu Besuch, berichteten später, der Besucher habe einen Teddy kaputt gemacht und ein Bilderbuch zerrissen. Nichts davon war geschehen. „Im Alltag sind Stereotype und Schemata trotzdem sehr nützlich. Sie sind ökonomisch, weil viele Situationen ihnen entsprechen“, sagt Psychologin Galow. Auch nachträglich wird das Gespeicherte im Gehirn immer wieder „umgeschrieben“, Überlegungen werden zu „Tatsachen“, ein Zeitungsbericht verändert die Gewichtung in der Aussage des Zeugen, der ihn gelesen hat. Psychologen sprechen vom „sozialen Ansteckungseffekt“. Schon vor Jahrzehnten wurde in Versuchen bewiesen, dass Erwachsene sich minutiös an fiktive Geschichten aus ihrer Kindheit erinnern, die Verwandte ihnen plastisch erzählt haben. Je öfter solche Geschichten wiederholt werden, desto eher hält man sie für echte, eigene Erinnerungen. Psychologen sprechen von „Quellenverwechslung“.

Auch die Fragetechnik der Vernehmer nimmt Einfluss auf die Erinnerung. In einer Studie schätzten Versuchsteilnehmer, die im Film einen Verkehrsunfall verfolgt hatten, später die Geschwindigkeit des Fahrers höher ein, wenn sie suggestiv gefragt wurden, bei welchem Tempo die Wagen „aufeinandergekracht“ seien, als wenn nur von einem „Zusammenstoß“ die Rede war. Bei der Beschreibung der Kleidung beteiligter Personen gehen die Zeugenaussagen meist deutlich auseinander. Immer wieder sagen Zeugen mit großer Sicherheit, aber zu Unrecht, eine ihnen präsentierte unbekannte Person sei an der Tat beteiligt gewesen. So haben nach der Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto 1977 dessen Witwe und Chauffeur übereinstimmend angegeben, eine bestimmte Frau sei dabei gewesen. Sie war es aber nicht.

Was kann getan werden? „Zeugen sollten möglichst schnell befragt werden, noch bevor ausführlich über die Tat berichtet wurde“, sagt Galow. Informationen sollten nicht öffentlich bekannt werden, ehe die Zeugen vernommen sind. Sie könnten Gehörte oder Gelesene anschließend als „mit eigenen Augen gesehen“ in ihrem Gedächtnis abspeichern.

In „Rashomon“ weiß der Zuschauer am Ende nur eines: Nichts von dem, was gesagt wird, ist wahr.

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