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Panorama: „Coca-Colonisierung“

Indien will Pestizide in US-Brause gefunden haben. Und verlangt das Geheimrezept

Vor laufenden Kameras verbrennen oder zerreißen wütende Inder Cola-Plakate, sie kippen die Softdrinks auf die Straße oder trichtern sie demonstrativ Eseln ein. Über 60 Jahre nach Beginn der Unabhängigkeitsbewegung erlebt Indien eine neue „Verlasst Indien“-Kampagne. Aber diesmal sind nicht die britischen Kolonialherren gemeint, sondern die US-Brausegiganten Coca-Cola und Pepsico. Der kleine, marxistisch regierte Bundesstaat Kerala setzte sich an die Spitze der Bewegung. Als erster will er komplett colafrei werden – er verbot den Verkauf der US-Cola ganz. Fünf andere Bundesstaaten haben US-Brausen aus Schulen, Hospitälern und Unis verbannt.

Auslöser war eine neue Studie des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt (CSE) in Neu-Delhi. Danach enthielten die untersuchten Proben Pestizidwerte, die im Durchschnitt bis zu 30fach über dem Grenzwert lagen. In Anzeigen bestritten die Hersteller dies, aber die öffentliche Empörung schwappt dennoch hoch. Und das oberste Gericht verdonnerte die Firmen, binnen vier Wochen die geheimen Zutaten des Rezepts offen zu legen.

Von den Verboten sind nur die Produkte der US-Töchter, nicht aber heimische Cola-Hersteller betroffen. Verglichen mit dem Westen werden in Indien noch vergleichsweise wenig Softdrinks konsumiert.

Giftstoffe im Essen und Trinken sind eigentlich nur sehr selten ein Thema, das die Nation erregt diskutiert. Nach Angaben von Experten weisen aber die meisten Lebensmittel in Indien erhöhte Pestizidwerte auf. Gemüse, Früchte und Milch sollen oft noch um ein Vielfaches höher belastet sein. Selbst in Flaschenwasser und Baby-Milchpulver fanden die Forscher vom CSE bedenkliche Pestizidwerte. Der jüngste Feldzug dürfte daher nicht allein der Gesundheit der Konsumenten geschuldet sein. Die US-Hersteller sind vielen Indern ein Dorn im Auge. 1977 hatte Indien Coca-Cola schon einmal aus dem Land geworfen, weil sich die Firma weigerte, ihr streng gehütetes Rezept offen zu legen. Erst 1993 kehrte sie zeitgleich mit dem Rivalen Pepsi zurück.

Seitdem wurden immer wieder Vorwürfe gegen den Brausekonzern laut, unter anderem etwa, er trockne die kostbaren Wasserressourcen aus. Während die junge Generation gerne zu den süßen Sprudeln greift, sehen Altlinke und rechte Hindunationalisten in Cola und Pepsi vor allem Symbole eines US-Konsumimperialismus. Die Angst vor einer „Coca-Colonisierung“ geht um, die jetzt in Hysterie mündet. Dabei lenkt die Kampagne von den eigenen Versäumnissen ab. Das Land hat ein Pestizidproblem. Indiens Bauern gehen äußerst unbekümmert mit Chemikalien um. Die meisten Gewässer und auch die Erde sind Studien zufolge mit Pestiziden verseucht.

Christine Möllhoff[Neu-Delhi]

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