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Panorama: Das dritte Geschlecht

Indiens Eunuchen haben kultischen Status. Sie sind Bettler und Prostituierte und bringen Glück. Oder Pech

Zum Schluss tanzt Sima. „Sima, komm, du tanzt so gut“, rufen die Leute. Einer rollt den zerschlissenen Teppich beiseite, ein anderer stellt den Kassettenrekorder an. Hindi-Musik ertönt, und Sima beginnt. Sie wiegt ihre Hüften, wackelt mit den Brüsten und lässt ihre langen Haare fliegen. Aus dunklen Augen wirft sie Tom, einem Besucher, so aufreizende Blicke zu, wie es keine anständige Inderin wagen würde.

Tom blickt ein wenig verlegen. Denn Sima mag sich wie eine Frau schminken, kleiden und bewegen, aber ihre Arme sind behaart wie die eines Mannes, unter dem Make-up schimmert ein Bartschatten, und ihr BH ist nur ausgestopft. Sima ist weder Mann noch Frau, sie ist eine von Indiens Hijras.

Man nennt sie in Indien auch das „dritte Geschlecht“. Sichere Zahlen, wie viele Hijras in Indien leben, gibt es nicht. Die Schätzungen reichen von 500 000 bis fünf Millionen. Meist werden Hijras als Eunuchen definiert. Aber niemand weiß sicher, wie viele tatsächlich kastriert sind.

Zehn Jahre war Sima alt – da hieß sie noch Pappu –, als sie entdeckte, dass sie anders ist. Sie fühlte sich zu Jungen hingezogen und liebte es, Frauenkleider zu tragen. Später rannte sie davon, um ihrer Familie die Schande zu ersparen und so zu leben, wie sie sich fühlte. Ihre neue Heimat fand sie bei den Hijras. „Wir können nicht als Mann leben, wir können nicht als Frau leben, deshalb leben wir als das dritte Geschlecht“, sagt sie.

Irgendwann will Sima auch den letzten Schritt tun, den Schritt, der sie endgültig ins „dritte Geschlecht“ verwandelt: die Kastration. Dann werde die Haut zarter, das Körperhaar weniger und das Aussehen insgesamt weiblicher, schwärmt die 24-jährige. Doch noch schreckt sie zurück. Für eine Operation, die offiziell verboten ist, fehlt ihr das Geld. Und die alte Form sei sehr „gefährlich“. Viele überlebten nicht. Das traditionelle Ritual ist eine Art primitiv-brutale Geschlechtsumwandlung.

Die Dai Ma, eine dazu berufene Hijra, schnürt mit einem Seil Penis und Hoden ab und schlägt beides mit einem Messerhieb ab. Man lässt die Wunde lange bluten. Dies soll das „Männliche“ auswaschen. Meist bleiben große und entstellende Narben.

„Die Hijras in Indien sind einer der letzten noch praktizierten Eunuchen- Kulte der Welt“, sagt Dorothea Riecker, die drei Jahre bei den Hijras recherchierte und Mitautorin des Films „Between the Lines“ ist. Sie sind kein rein indisches Phänomen, auch in den islamischen Staaten Pakistan und Bangladesch finden sich Hijras. Ihre Wurzeln liegen sowohl in der islamischen als auch hinduistischen Kultur begründet, Hijras können sowohl Muslime als auch Hindus sein. Verschiedene Sagen in der hinduistischen Mythologie werden als Ursprung der Hijras angesehen. Eine davon ist die des Heldensohnes Avaranan, der am nächsten Tag in der Schlacht geopfert werden sollte. Weil er nicht als Junggeselle sterben sollte, erbarmte sich der Gott Krishna, verwandelte sich in die schöne Mohini und heiratete Avaranan. Am nächsten Tag wurde Mohini Witwe.

Bei ihrem größten Festival im Tempel von Koovagam, 250 Kilometer südlich von Chennai, zelebrieren Hijras aus ganz Indien jedes Jahr im Frühjahr das Hochzeits- und Witwenritual.

Die Hijras leben am Rande der Gesellschaft, haben aber einen kultischen Sonderstatus. Auf der einen Seite werden sie verachtet, verspottet und ausgegrenzt. Andererseits fürchtet man sie und spricht ihnen magische Kräfte zu, weil sie männliche und weibliche Energie vereinen, aber unfruchtbar sind. Sie huldigen der Muttergöttin Bahuchara Mata, die ihnen die Macht verleiht, zu segnen und zu verfluchen.

Kinderlose Frauen erbitten ihren Segen. Ihre angeblich magischen Kräften sichern auch ihren Lebensunterhalt. Die Hijras kommen – meist unangemeldet – zu Hochzeiten, Kindsgeburten, Taufen und Umzügen. Dann singen und tanzen sie und verlangen „badhai“, eine Spende, für ihren Segen. Andernfalls drohen sie mit ihrem Fluch. „Wenn der Fluch aus dem Tiefsten meines Herzens kommt, dann wirkt er“, sagt Sima.

Provokation, auch sexuelle, ist die Macht der Hijras. Grell geschminkt streifen sie in bunten Frauenkleidern mit schwingenden Hintern durch Indiens Städte. Ihr Auftreten ist laut, oft rabiat oder sogar aggressiv. In Delhi sieht man, wie sie in Parks Liebespaare abklappern und ihnen Geld abpressen. Auch manche Ausländer haben unangenehme Erfahrungen gemacht. Bei Neuankömmlingen tauchen Hijras auf und belagern die Wohnung, um ihren Tribut zu verlangen. Viele Hijras verdienen ihr Geld mit Betteln oder Prostitution.

Auch Sima geht oft nachts in den Parks anschaffen. „Alle Arten von Männern kommen zu uns“, sagt sie. „Am Tage fürchten sie uns, in der Nacht machen sie Liebe mit uns.“ Manchmal erwischt die Polizei sie. Dann muss sie Schmiergeld zahlen oder ihren Hintern hinhalten.

Es ist keine Seltenheit, dass Hijras vergewaltigt oder verprügelt werden – von Freiern oder der Polizei. Hilfe können sie kaum erwarten, eher lacht man sie aus. Traditionell leben Hijras als Chelas – Schülerinnen – in kleinen Gemeinschaften im Haus eines Gurus – eines Meisters – zusammen.

Auch Sima hat ihren Guru, seine Aufgabe erinnert an die eines Zuhälters. „Er lässt uns sehr, sehr hart arbeiten.“ Und er kassiert das Geld ab, das sie erbettelt oder auf dem Strich verdient.

Von 100 Rupien darf sie gerade zehn behalten. Dafür beschützt er sie, teilt die Reviere auf, besticht die Polizei und holt sie notfalls aus dem Knast raus. „Du brauchst einen Guru. Das ist Teil der Kultur der Hijras.“

Manchmal büxt sie für ein paar Stunden aus. Dann geht sie ins Mitr-Zentrum im Westen Neu-Delhis, wo wir sie auch treffen. Mitr klärt über Aids auf und bietet ihr und anderen eine Art Refugium, wo sie sein können, wie sie sind. Man ist unter sich, trinkt Tee, tanzt und singt. Dort kommt Sima mit anderen Hijras zusammen. Und mit Kothis. „Hijras und Kothis bilden eine enge Gemeinschaft“, sagt sie. Im Westen würde man Kothis wohl als Tunten oder Transvestiten klassifizieren. Aber in Indien sind die sexuellen Grenzen anders. Die Kothis definieren sich selbst als den „empfangenden Teil“, also jenen Partner, der beim Sex penetriert wird. Ihre Freier oder Freunde, die Panthis, sind Männer, die eindringen. Diskriminiert werden vor allem die Kothis, weil sie die Frauenrolle beim Sex übernehmen.

Die Panthis sehen sich dagegen nicht als schwul oder bisexuell an. Es gibt Schätzungen, dass etwa 30 Prozent aller Inder sowohl mit Frauen als auch mit Männern Sex haben. Im Kampf gegen Aids birgt dies besondere Probleme: So hält sich der Irrglaube, dass man Aids nur von einer Frau, nicht aber von einem Mann bekommt.

Die Kothis beneiden die Hijras ein wenig, weil sie so frech und frei sind. Auch Sima lässt keinen Zweifel, wer den Ton angibt: Immer wieder klatscht sie in die Hände, wenn einer der Kothis Unbilliges sagt. Sie hat eine ganz eigene Art zu klatschen, es ist fast wie eine Sprache – mal tadelnd, mal neckend, mal aggressiv. Das Klatschen ist das Kultsignal der Hijras. Angeblich soll es das Aufeinanderklatschen nackter Körper beim Liebesakt imitieren. Im verklemmten Indien ist das eine anstößige, ja obszöne Geste.

Aber auch Sima hat ganz bürgerliche, romantische Träume. Eines Tages möchte sie gerne heiraten, jedenfalls einen festen Freund haben. Aber ihrem Mann den Haushalt führen will sie auf keinen Fall. „Ich werde nicht wie das zweite Geschlecht leben“, sagt sie – es klingt beinahe verächtlich. Das zweite Geschlecht sind die Frauen. Sie wolle weiter auf den Strich gehen, sagt Sima. Auch das ist für sie ein Stück Freiheit.

Christine Möllhoff[Neu-Delhi]

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