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Erdbeben in der Türkei: Das Handy als Lebenretter

Ein Verschütteter rief unter den Trümmern die Notrufnummer an - und konnte so gerettet werden. Nach dem Beben in der Türkei beginnt der Wettlauf mit der Zeit.

Yalcin Akay war unter den Trümmern eines eingestürzten Wohnhauses in der osttürkischen Kreisstadt Ercis eingeklemmt, doch er gab nicht auf. Sein Handy funktionierte noch, und so konnte er die Polizei anrufen und die Rettungsteams zu sich lotsen. Wenig später wurde der 19-Jährige gefunden und mit einer Beinverletzung ins nächste Krankenhaus gebracht. Noch auf der Trage berichtete er seinen Rettern von den Stimmen weiterer Verschütteter in der Ruine des Hauses, die er gehört habe.

Auch andere Schicksale, über die das türkische Fernsehen ununterbrochen berichtet, hören sich an wie ein Wunder. In einem anderen Teil von Ercis zogen die Retter drei junge Lehrerinnen aus einem Haufen zerstörter Betonblöcke, die bis Sonntagmittag noch ein sechsstöckiges Gebäude gewesen waren. Die drei jungen Frauen überlebten, obwohl sie sich im Moment des Erdbebens mit der Stärke 7,2 in einer Cafeteria im Erdgeschoss des Hauses aufhielten.

Geschichten wie diese gaben den Rettern am Tag nach dem schweren Erdbeben in der Provinz Van im Osten der Türkei neuen Mut. Doch Illusionen macht sich niemand. Bis zum Abend zählten die Behörden knapp 280 Tote und mehr als Tausend Verletzte. Allein in Ercis wurden 24 Stunden nach dem Beben noch mehr als 300 Menschen vermisst. Für Eingeschlossene und Verletzte unter den Trümmern wurde die Zeit knapp.

Die Rettungsaktion wurde noch aus einem anderen Grund zum Wettlauf gegen die Zeit. Nachts sinken die Temperaturen im Unglücksgebiet auf den Gefrierpunkt, für die kommenden Tage ist Schnee vorhergesagt. In einigen Dörfern der gebirgigen Region war bis gestern Mittag noch überhaupt keine Hilfe eingetroffen.

Die Behörden stehen vor der Doppelaufgabe, eine groß angelegte Rettungsaktion zu organisieren und gleichzeitig den möglichst raschen Aufbau von Zeltstädten und Feldküchen für die Überlebenden voranzutreiben. Deutlich war zudem der Wille der Regierung zu spüren, alles zu tun, um den Eindruck zu vermeiden, dass die türkische Republik mit der Hilfe für diese kurdische Region knausert.

„Alles, was der Staat hat, wird nach Van geschickt“, sagte Vize-Premier Besir Atalay vor der Presse. „An jedem Trümmerhaufen wird gearbeitet.“ Doch das traf nur für Städte wie Van und Ercis zu. In Dörfern des Umlands warteten die Menschen am Montag noch auf Hilfe. Der türkische Nachrichtensender NTV berichtete, in dem Dorf Güvecliköy, rund 30 Kilometer von der Provinzhauptstadt Van, seien 130 von 200 Häusern vollkommen zerstört worden. In Güvecliköy starben mehrere Menschen, darunter auch Kinder.

Lesen Sie auf Seite 2, warum die weit verbreitete Missachtung von Bauvorschriften Menschenleben kostet.

Der türkische Rote Halbmond ließ unterdessen auf Fußballplätzen und anderen öffentlichen Flächen beheizbare Zelte für mehrere Zehntausend Obdachlose errichten: Viele Menschen hatten die erste Nacht nach dem Beben im Freien verbracht, wegen der vielen Nachbeben, aber auch weil die Behörden vor einer Rückkehr in beschädigte Häuser gewarnt hatten. Doch nun sollen die Menschen möglichst rasch untergebracht werden. Mehr als 20 000 warme Decken und Feldküchen zur Versorgung von 25 000 Menschen trafen in Van ein.

Unterdessen kritisieren Experten die weit verbreitete Missachtung von Bauvorschriften bei der Errichtung von Wohnhäusern und den Mangel an staatlichen Kontrollen. „Nicht das Beben tötet“, sagte Serdar Harp, der Chef des türkischen Bauingenieurs-Verbandes. „Die Gebäude töten.“ Viele Gebäude in Van, einer der ärmsten Provinzen der Türkei, sind in den vergangenen Jahren hastig und ohne Beachtung von Vorschriften errichtet worden, häufig wird minderwertiges Material verwendet oder es wird am Stahlbeton gespart, der den Gebäuden Halt geben soll. Hin und wieder setzen Hausbesitzer auch auf eigene Faust zusätzliche Stockwerke auf bestehende Häuser; ein Architekt oder ein anderer Sachverständiger werden dabei nur selten gefragt. Korrupte Behördenvertreter drücken häufig beide Augen zu. Nach dem Beben war in Van und in Ercis zu sehen, dass unmittelbar neben völlig zerstörten Wohnhäusern andere Gebäude die Erschütterung ohne erkennbaren Schäden weggesteckt hatten.

Allerdings sind diese Missstände nicht auf Van, das türkische Kurdengebiet oder die ärmeren Landesteile beschränkt: Auch in der erdbebengefährdeten Metropole Istanbul sind nach Expertenschätzung Hunderttausende Wohngebäude ohne Rücksicht auf die Erdbebensicherheit gebaut worden.

Zahlreiche Beben in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt das verheerende Erdbeben von 1999 mit rund 20 000 Toten, machten immer wieder deutlich, wie schlecht die Bausubstanz vielerorts ist. Trotz des bemerkenswerten Wirtschaftsbooms der Türkei hat sich daran bis heute nur wenig geändert.

Was sich sehr wohl geändert hat, ist die Schnelligkeit und die Professionalität der Katastrophenhilfe. Nach dem Beben von 1999 hatte es mehrere Tage gedauert, bis die schwerfällige Bürokratie eine einigermaßen funktionierende Hilfsaktion auf die Beine stellen konnte; diesmal begannen die Rettungsarbeiten schon wenige Stunden nach der Katastrophe. Damals dauerte es Tage, bis sich der erste Minister im Katastrophengebiet blicken ließ; diesmal flog Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wenige Stunden nach dem Beben mit einem halben Dutzend Ministern nach Van. Und noch einen kleinen Hoffnungsschimmer gab es am Tag nach dem Beben: Der Rest der Türkei reagierte auf das Unglück im Kurdengebiet mit einer beispiellosen Hilfsbereitschaft. So organisierten Bewohner von Stadtvierteln in Istanbul, Ankara oder Izmir spontane Kleider- und Nahrungsmittelsammlungen. Die in Istanbul nach Osten startenden Überlandbusse nahmen Hilfspakete für Van mit. Die Verwaltung des Istanbuler Stadtteils Sisli, eine der vornehmsten Gegenden des ganzen Landes, will tausend Familien aus Van ein Jahr Aufenthalt in Istanbul bezahlen. Im ganzen Land richteten Kommunalbehörden spezielle Telefon-Hotlines für Kleiderspenden ein.

Und all das, obwohl erst vergangene Woche 24 türkische Soldaten bei einem Angriff kurdischer PKK-Rebellen getötet worden waren und obwohl noch am Wochenende mehrere Hunderttausend Menschen in mehreren türkischen Städten gegen die PKK und für die türkische Armee demonstriert hatten: Die Türken können offenbar ganz genau zwischen ihren kurdischen Mitbürgern und der PKK unterscheiden. „Mit der Hilfe aus allen Landesteilen kommt ein Gruß der Brüderlichkeit“, erklärte deshalb Selahattin Demirtas, der Chef der Kurdenpartei BDP. Im Parlament von Ankara zog die BDP einen im Zusammenhang mit der Kurdenpolitik eingereichten Misstrauensantrag gegen Innenminister Idris Naim Sahin zurück, der maßgeblich an der staatlichen Hilfsaktion in Van beteiligt war.

Hilfsteams aus dem nahen Iran und aus Aserbaidschan beteiligten sich an der Suche nach Überlebenden. Man habe viele andere Hilfsangebote aus aller Welt erhalten, auch Deutschland bot Unterstützung an. Man wolle diese Angebote zunächst aber nicht in Anspruch nehmen, weil die Zahl der Retter vor Ort ausreichend sei, sagte Vizepremier Atalay. Unter den Staaten, die den Türken ohne Zögern ihre Hilfe anboten, waren auch Israel und Armenien, zwei Länder, deren Beziehungen zur Ankara seit geraumer Zeit gespannt sind. Das Beben von 1999 hatte eine Annäherung zwischen der Türkei und Griechenland ausgelöst – ob nun eine türkisch-israelische oder eine türkisch-armenische Annäherung beginnt, muss sich erweisen. Bevor sie sich dem politischen Tauwetter widmen kann, muss die Türkei sich zunächst mit dem beginnenden Winter in Van befassen.

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