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Panorama: Das Leben ist ein Dschungel

Geh nicht in den Urwald, die werden dich aufessen, sagten alle. Sprachwissenschaftler Kügler ging trotzdem und nahm seine Familie mit. So wuchs seine Tochter Sabine bei einem Stamm in West-Papua wie in der Steinzeit auf. Heute, mit 31, sagt sie: In der Zivilisation ist es gefährlicher.

Als kleines Kind hat Sabine Kügler gelernt, wie man Spinnen mit kleinen Pfeilen schießt und sie über dem Feuer röstet und wie man aus Fledermausflügeln Kaugummi macht. Jetzt steht sie in München an einer großen Kreuzung, und ihr Blick sieht fast ein wenig ängstlich aus. Auch nachdem die Ampel auf Grün gesprungen ist, bleibt sie noch etwas länger stehen als die anderen Passanten, blickt lieber noch zweimal, dreimal, viermal nach links und rechts – wie ein Kind, dass sich erst allmählich daran gewöhnen muss, allein zwischen den ganzen Autos umherzulaufen.

Sabine Kügler ist 31 Jahre alt, und bis vor drei Jahren hatte sie regelrecht Angst vor Autos, Trambahnen und U-Bahnen. Sie hat sich mittlerweile an den Verkehr hier gewöhnt, aber ein bisschen unheimlich bleiben ihr die großen Straßen und Autos. Denn sie ist die ersten 17 Jahre ihres Lebens fernab der Zivilisation aufgewachsen, die meiste Zeit davon bei einem Stamm in West-Papua, der, wie Sabine sagt, „einfach in der Steinzeit stehen geblieben ist“.

Alles begann mit einer merkwürdigen Begegnung am Rande des Dschungels. An einem Sommertag des Jahres 1978 sitzt ein US-Sprachwissenschaftler, ein Bekannter von Sabine Küglers Vater, irgendwo in der indonesischen Region West-Papua auf einer Lichtung am Rande des Urwalds. Er lebt dort unter den Eingeborenen und studiert ihre Sprache. Als er sich gerade ein paar Notizen macht, stehen plötzlich vier Männer vor ihm, die er noch nie zuvor gesehen hat. Lautlos sind sie aus den Bäumen hervorgetreten. Sie sind nackt, sie tragen Pfeil und Bogen und haben sich als Schmuck Knochen durch ihre Nasen gebohrt. Sie sprechen einen Dialekt, den der erfahrene Forscher noch nie gehört hat. Und sie haben Angst – denn offenbar ist dies der erste weiße Mensch, dem sie jemals begegnet sind. Nach einigen Minuten verschwinden sie wieder im Urwald.

Sabine Küglers Vater hört durch Zufall von der Begegnung seines US-Kollegen mit einem, wie sich herausstellte, unbekannten Stammesvolk und einer unbekannten Sprache. Sabine, zweites von drei Kindern des deutschen Sprachwissenschaftlers Klaus-Peter Kügler und seiner Frau Doris, ist damals sechs Jahre alt und lebt mit seinen Eltern und Geschwistern an der Grenze zwischen Nepal und Indien im Himalaya. Dort erforscht der Vater die Sprache eines Bergvolks. Das Leben dort ist einfach und abgeschieden, aber nicht vom Rest der Welt abgeschnitten.

Ein Lager zwischen Bäumen

Bis Mitte 1978 hat Sabines Vater das Projekt im Himalaya abgeschlossen. Jetzt will er nach Indonesien – „Mein Vater“, erzählt Sabine heute, „hat sich gleich in West-Papua auf die Suche nach dem unbekannten Volk gemacht. Obwohl man ihn gewarnt hat: Geh nicht in den Dschungel! Du wirst getötet. Du wirst gegessen!“ Er wird nicht gegessen. Aber er findet auch nicht, wonach er sucht. Bis er nach drei erfolglosen Erkundungsfahrten die Suche aufgibt, mit ein paar Begleitern ein Lager mitten im Dschungel aufschlägt und einfach wartet.

Nach zwei Tagen kommen die Männer des unbekannten Stammes. Zuerst heimlich, nachts. Sie durchstöbern das Gepäck, bis sie sicher sind, dass sich darin keine Waffen befinden. Dann zeigen sich die Unbekannten und beginnen zu reden. Sie nennen sich selbst Ijarike. Nach dem ersten Treffen kehrt Sabines Vater immer wieder in den Dschungel zurück. Anfang 1980 zieht der Forscher dann mit seiner Frau, mit Sabine, mit ihrer älteren Schwester und ihrem jüngeren Bruder ganz zu den Ijarike. Die Familie lebt jetzt nicht mehr, wie zuvor, am Rande der Zivilisation, sondern außerhalb. Es gibt Feuer, Steinwerkzeuge, Pfeil und Bogen – und das was der Dschungel bereithält. Dazu ein paar mitgebrachte Nahrungsmittel, Bücher, Kleidungsstücke und Medikamente. Sonst nichts. Das Dorf, in dem die Küglers nun leben, ist nur durch tagelange Bootsfahrten zu erreichen. „Mir hat das nicht viel ausgemacht.“

Sommer 2003. Sabine sitzt in einem Restaurant am Rande von München, rührt in ihrem Kaffee und denkt an die ersten Tage im Urwald zurück: „Das waren eben plötzlich andere Kinder, mit denen wir gespielt haben.“ Außerdem gibt es bei den Ijarike so viel zu entdecken und zu lernen. Wie man sich Pfeil und Bogen selbst bastelt und damit auf die Jagd geht zum Beispiel, oder der Fledermaus-Kaugummi. Die Tage kommen Sabine sehr kurz vor: „Morgens um sechs sind wir mit dem Sonnenaufgang aufgestanden, abends um sechs mit dem Sonnenuntergang schlafen gegangen. Wir waren ständig draußen am Fluss und haben gespielt.“ Wenn es regnet, können diese zwölf Stunden allerdings eine sehr lange Zeit sein. Dann müssen Sabine und ihre Geschwister im Haus bleiben. Dieses Haus ist anfangs nicht mehr als eine notdürftig zusammengezimmerte Holzhütte, aber zugleich stellt es das Bindeglied zur Zivilisation dar, zu jener Gesellschaft, in der Sabines Eltern aufgewachsen sind. Denn im Haus müssen die Kinder jeden Tag unter Anleitung der Mutter ihre Schularbeiten erledigen, dort lesen sie, wenn es regnet, englische und deutsche Bücher, die ihre Eltern mitgebracht haben oder die Verwandte alle paar Monate schicken.

Die Regeln der Natur

So wächst Sabine schnell in ein Doppelleben hinein, das sie wohl auch nie wieder verlassen wird. Denn zum einen wächst sie so wild auf wie die Kinder der Ijarike: „Es zählten nur die Regeln der Natur. Nicht: Schau nach rechts und links, bevor du über die Straße gehst, sondern: Leg deine Hand nie auf einen losen Stein, es könnte ein Skorpion darunter sitzen.“ Ihre Spielkameraden sind die Kinder des Stammes, und wenn man sich die alten Super-8-Filme anschaut, die Sabine mitgebracht hat, dann kann man innerhalb dieser Rasselbande, die da johlend in den Fluss hineinspringt, keinerlei Unterschiede im Verhalten erkennen. Etwas komisch wirken nur diese drei weißen Kinder mit den strohblonden Haaren inmitten all der dunkelhäutigen, kraushaarigen Mädchen und Jungen.

Doch obwohl sie draußen ein Teil des Stammes sind, lernen Sabine und ihre Geschwister ein paar Meter weiter in ihrem Haus Mathematik, Geographie und Englisch, und manchmal träumt sie dabei von dieser Zivilisation, in der es fließendes, heißes Wasser gibt – „das war damals das größte Ding für mich. Völlig unfassbar.“ Letztlich bleibt diese andere Welt für sie auch „so wenig greifbar wie für Europäer der Dschungel“. So wie man hier als Kind vom Urwald liest und seine Fantasien entwickelt, ohne auch nur ein bisschen verstehen zu können, wie es wirklich dort ist, so liest Sabine von Europa. Ihre Schulbücher kommen ihr vor wie Märchenbücher.

Denn in ihrem Leben ist alles vollkommen anders. Es gibt außer der Familie keine anderen weißen Menschen, keinen Strom, keine Straßen und Häuser aus Stein. Es gibt auch nur eine einzige Form der Strafe. Wer sich die Frau eines anderen nimmt, wer stiehlt, auch wer nur wütend auf einen anderen ist und das zeigt – der wird getötet. „Das Leben bei den Ijarike war sehr eindeutig“, sagt Sabine in einem Tonfall, bei dem ein „und das war gut so“ deutlich hörbar mitschwingt. Für einen Moment ist man gänzlich irritiert. Diese junge Frau, die so faszinierend und plastisch, aber doch sehr reflektiert über ein unglaubliches Leben erzählt – findet die wirklich die Todesstrafe als alleinige Sanktion gut? Weil dann alles klar geregelt ist?

„Nein, nein, natürlich nicht“, wehrt Sabine ab, „inzwischen handhaben die das auch nicht mehr so strikt.“ Genauer gesagt, seit jenem Tag, an dem ihr Vater darauf verzichtete, einen Sohn des Häuptlings töten zu lassen, weil der ihm ein Stück geräucherten Krokodilschwanz stehlen wollte. Trotzdem – es sind solche Momente, in denen man merkt, dass die Vergangenheit noch in Sabine Kügler arbeitet. Es sind diese Sätze, die zeigen, wie sehr sie die Widersprüche zwischen Zivilisation und Urwald immer noch beschäftigen, fast 14 Jahre, nachdem sie West-Papua verlassen musste. Oft erscheint ihre Sicht für einen in Deutschland aufgewachsenen Zuhörer eigenartig spiegelverkehrt, nicht nur, was die Werte und Moralvorstellungen betrifft.

Fragt man Sabine, die inzwischen selbst vier Kinder hat, ob sie es im Rückblick denn nicht riskant findet, dass ihre Eltern einfach mit ihr in den Dschungel gegangen sind, dann antwortet sie überrascht: „Nein, warum?“ Nun, wegen der Gefahren etwa, von denen sie selbst kurz zuvor erzählt hat. So sind die Ijarike, als die Küglers 1980 ankommen, alles andere als ein friedfertiges Volk. Sabine erlebt immer wieder grausame Kämpfe zwischen einzelnen Stammesgruppen, manches Mal schwirren die Pfeile direkt vor ihrer Hütte durch die Luft: „Es gab erst tagelange Kriegstänze und Rituale. Wenn es dann losging, mussten wir uns immer auf den Boden legen.“ Zusammen mit ihrer Mutter, einer gelernten Krankenschwester, versorgen sie später die Verwundeten. Immerhin bleiben sie als Weiße vom Krieg verschont – nicht aber von den Krankheiten.

Zweimal erkrankt sie als kleines Kind schwer an Malaria, sie stirbt fast daran, außerdem gibt es Krokodile, giftige Schlangen, Spinnen und todbringende Früchte. Im tropischen Klima mit einer Luftfeuchtigkeit von bis zu 100 Prozent und Temperaturen von über 40 Grad verderben Fisch und Fleisch rasend schnell, Infektionen breiten sich ebenso schnell aus. Der nächste Arzt lebt ein paar Tagesreisen von den Ijarike entfernt. „Der Dschungel entschuldigt keine Fehler“, sagt Sabine Kügler, „einmal ein falscher Schritt, und man ist tot.“ Aber sie hat gelernt, damit zu leben. So gut, dass sie bis heute findet: „Es ist gefährlicher, seine Kinder hier in der Zivilisation aufwachsen zu lassen.“ Denn reicht hier nicht auch ein falscher Schritt auf die Straße? Was ist mit Kriminalität, mit Gewalt, mit Drogen? Im Gegensatz zum Dschungel scheinen die Gefahren der Zivilisation für sie undurchschaubar zu sein. So ist das wohl, wenn man auf einmal gezwungen ist, die klaren Gesetze der Natur gegen das vielschichtige, interpretierbare Regelgebilde der westlichen Kultur auszutauschen.

Von Papua ins Mädcheninternat

Mit 17 erkrankte Sabine wieder schwer. Die Ärzte in der Provinzhauptstadt Jayapura rieten ihr, nicht mehr in den Dschungel zurückzugehen. Ein Onkel brachte sie nach Europa – in ein Mädcheninternat in die Schweiz. Für Sabine war es ein Kulturschock: „Stellen Sie sich vor, man hätte Sie als 17-jährigen Europäer einfach in den Dschungel zu den Ijarike gesteckt, ganz alleine. Und hätte gesagt: Tschüss. Dann können Sie sich vielleicht vorstellen, wie es mir hier ging. Sie müssen alles, was Sie da brauchen, neu lernen. Wie man jagt, wie man Fische fängt, wie man überlebt.“ So musste Sabine hier alles neu lernen: Wie man Bus fährt, wie man sich begrüßt, wie man einkauft, ohne über den Preis verhandeln zu können.

Doch so wie Sabine das Leben im Dschungel gelernt hat, so hat sie es auch in der Zivilisation geschafft. Ihre Eltern wollten nie in diese Zivilisation zurückkehren, sie leben bis heute in West-Papua bei den Ijarike. Sabine hat Abitur gemacht, als Model gearbeitet und lebt jetzt mit ihrem zweiten Mann, einem Computerexperten, und ihren vier Kindern in Norddeutschland. Sie ist längst angekommen in der Zivilisation, sie hadert nicht mit ihrem Schicksal und ist auch nicht von unsäglichem Heimweh nach dem Dschungel geplagt. Aber eine Distanz bleibt immer spürbar. „Ich bin hier und doch nicht hier“, sagt sie einmal unvermittelt. Ihren Geschwistern, die in den USA leben, geht es ähnlich, sagt Sabine.

Es ist kein Zufall, dass wir Sabine bei einem Zwischenstopp in München treffen. Sie ist ständig unterwegs, oft umgezogen, viel auf Reisen. „Ich glaube, das liegt daran, dass ich hier nie richtig zur Ruhe gekommen bin. Deswegen kann ich nur schlecht lange Zeit an einem Ort bleiben.“ Wie sollte sie auch? Wenn sie vom Dschungel erzählt, spricht sie von einer „Stille, die man sich hier nicht einmal vorstellen kann“. Sie beschreibt „das unendliche, gleichmäßige, beruhigende Grün des Urwalds“ und die ganz andere Geschwindigkeit des Lebens dort. Oft scheint es ihr noch, „dass hier alles doppelt so schnell passiert“. Wenn man nach dem Gespräch mit ihr auf die Straßen der Stadt hinausgeht, erscheint einem alles dreckig und laut. „Ein Teil von mir will immer zurück“, sagt Sabine zum Abschied. Dann tritt sie vorsichtig an die Ampel.

Jörg Schallenberg

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