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David gegen Goliath: Marco und die Medien

Der Schweizer Medienpsychologe Mario Gmür über die Instrumentalisierung Marco W.s und "boulevardeske Hyänen" im Mediengeschäft.

Marco W. (17) saß acht Monate lang in türkischen Gefängnissen. Ihm wird vorgeworfen, eine 13-jährige Britin vergewaltigt zu haben. Nun ist er zunächst auf freiem Fuß. Deutsche Medien stürzen sich auf seine Geschichte. Der Sender RTL hat einen Exklusivvertrag ausgehandelt und begleitet den Schüler auf Schritt und Tritt. Während seiner Haftzeit hat er Zuspruch durch die deutsche Öffentlichkeit erfahren. Viele haben ihm Briefe geschrieben, um ihm Mut zu machen.

Herr Gmür, was passiert jetzt mit Marco, der so plötzlich im Licht der Öffentlichkeit steht?

Die Anteilnahme der Öffentlichkeit ist in dem Fall sicher eine Hilfe. Sowohl auf politischer als auch prozesstaktischer Ebene. Ohne ein Gespräch mit dem Jungen, kann man nicht genau sagen, was die plötzliche Aufmerksamkeit für ihn bedeutet und wie er sich fühlt. Aber er war ohnehin in einer dramatischen, bedrohlichen Situation: Als 17-Jähriger in einem fremden Land, sehr isoliert.

Im Exklusivinterview mit RTL wurden lediglich Fragen zum persönlichen Befinden Marcos gestellt. Nicht aber zum Anlass der Anklage.


Das Problem ist, dass es für die Medien nicht mehr um das Politische geht, sondern dass die Sensationslust der Öffentlichkeit befriedigt werden soll. So wird im Dienste der Quote versucht, die Aufmerksamkeit zu steigern. Dabei entwickelt sich eine gewisse Eigendynamik, die sich dann von Marcos eigenen Vorstellungen entfernt. Er wird so zu einer Figur der medialen Inszenierung.

Kann man diese Mechanismen im Griff haben, sie steuern?

Man kann das nicht steuern. Denn das Verhältnis von Mensch und Öffentlichkeit ist immer eine David-gegen-Goliath-Situation. Bei einem Unerfahrenen ohnehin. Der wird zum Spielball der medialen Mächte.

Gibt es einen Unterschied zwischen Marco, einem mutmaßlichen Vergewaltiger, und einem reinen Opfer wie Natascha Kampusch?

Es ist prinzipiell kein Unterschied, weil ja ein Täter, der nicht verurteilt ist, ebenso wie ein Opfer eines Gewaltdeliktes auch Anspruch auf korrekte Behandlung durch die Medien hat. Beide werden oft Opfer von Fehlinformationen, Teilwahrheiten und Vorverurteilungen. Es findet eine Tribunalisierung bei Opfer und Täter statt. Grundsätzlich geht es darum, dass sie Opfer von Paparrazi, Outing und einer Tribunalisierung werden. Ihr Schicksal wird in Leserbriefspalten verhandelt. Sie werden instrumentalisiert und stigmatisiert, das heißt nur noch über das Ereignis wahrgenommen. Aber dabei ist Marco ein Spezialfall, denn er hat ein konkretes Interesse daran, in einem guten Licht dazustehen beziehungsweise Solidarität zu erfahren. Freilich gilt für jedermann: Lieber eine falsche, aber vorteilhafte Behandlung in der Öffentlichkeit, als eine richtige, aber nachteilige.

Was passiert, wenn Marco nach dem ganzen Rummel um seine Person fallen gelassen wird? Gibt es eine Betreuung in diesen Fällen?

Das weiß ich in dem Fall nicht. Solche Menschen werden aber oft von ihrer unmittelbaren Umgebung betreut, von Angehörigen und Freunden. Oft erleben Sie, dass ihre Beziehung zur Öffentlichkeit, in die sie sich begeben haben, rein narzistischer Natur war. Wenn sie fallen gelassen werden, wird das von ihnen oft als Missbrauch empfunden. Das kann dann auch eine Gefahr für das weitere Leben bedeuten. Marco sollte mit einem guten Anwalt besprechen, wie es weiter geht und seine Intimsphäre nicht oder nur sehr vorsichtig  offen legen. Nur dann kann er sich den boulevardesken Hyänen entwinden.

Das Gespräch führte Marie Preuß

Mario Gmür ist Medienpsychologe und Dozent an der Universität Zürich. Bekannt wurde er mit den Büchern "Der öffentliche Mensch" (2002) und "Das Medienopfersyndrom" (2007).

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