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© Warner Bros./Cinetext

Debatte um US-Film: Kerle und Kinder

„Wo die wilden Kerle wohnen“ – kann man diesen Film Kindern zeigen? Darüber ist in den USA eine große Debatte entbrannt. Schon das Buch hatte seinerzeit Diskussionen ausgelöst.

Maurice Sendak hat das alles schon einmal gehört. Damals, 1964, als sein 37 Seiten und gerade einmal 338 Wörter dünnes Bilderbuch „Wo die wilden Kerle wohnen“ erschien. Man dürfe auf keinen Fall Kinder mit diesem Buch alleine lassen, schrieb damals ein Kritiker, sie würden sich sonst ob der verwirrenden und sinnlosen Geschichte zu Tode erschrecken. Der prominente Psychologe Bruno Bettelheim verurteilte damals das Werk aufs Schärfste, weil Sendak „offensichtlich nicht begreife, wie tief die Geschichte ein Kind traumatisieren könne“.

Jetzt ist das Buch, das aller Angriffe besorgter Pädagogen und Psychologen zum Trotz ein Weltbestseller wurde, von Kultregisseur Spike Jonze verfilmt worden, und der Feuersturm bricht erneut los. „Das ist ein Film über ein schwaches Elternteil, das sich nicht um seine Kinder sorgt und eine Hauptfigur, die ganz klar Therapie braucht“, beschwerte sich ein Lehrer und Vater gegenüber dem Fernsehsender CNN, nachdem er mit seiner Tochter die Vorführung gesehen hatte. Das Mädchen, so sagte der aufgebrachte Mann, sei zutiefst verstört, seit sie das Werk betrachtet habe. „Über eines bin ich mir ganz sicher“, schrieb der Kritiker des renommierten Wochenmagazins „New Yorker“, David Denby. „Ein Achtjähriger, der sich den Film anschaut, wird erlöst sein, wenn er das Kino wieder verlassen darf.“ Seit der Film in den USA gestartet ist, fühlen sich dort Kritiker und Kolumnisten aller großen Zeitungen herausgefordert. In Deutschland startet der Film kurz vor Weihnachten. Die zehn Sätze des Buches hatten eine einfache und gleichwohl machtvolle und faszinierende Geschichte erzählt. Der etwa sechs Jahre alte Max tobt in einem Wolfsanzug herum und treibt allerlei Unfug, bis seine Mutter ihn als „wilden Kerl“ bezichtigt. Max kontert ungezogen, dass er sie auffressen werde, woraufhin er ohne Abendessen zu Bett geschickt wird. In seinem Zimmer angelangt, begibt er sich auf eine Fantasiereise in ein Reich wilder Tiere, zu deren König er ernannt wird. Als er wieder nach Hause kommt, steht sein noch immer warmes Essen auf dem Tisch. Für den Film hat Schriftsteller Dave Eggers in seinem Drehbuch die knappe Fabel kindlicher Angst und Verlorenheit sowie der Überwindung der daraus resultierenden rebellischen Impulse noch deutlich ausgeschmückt. Die ältere Schwester der Hauptfigur Max ist mit ihrem Freund unterwegs, seine geschiedene Mutter beschäftigt sich mit ihrem Geliebten auf dem Sofa. Max ist einsam und benimmt sich deshalb wie ein verzogener Balg. Als seine Mutter ihn zu besänftigen versucht, beißt er sie und läuft davon.

Wie sein literarisches Vorbild landet der Film-Max auf einer Insel voller Monster, die ihrerseits kompliziert und verstört wirken und ständig untereinander Konflikte haben. Sie wollen Max zunächst verspeisen, doch er schafft es, sie einzuschüchtern und sich zu ihrem Herrscher aufzuschwingen. Max hat eine neue Familie gefunden, die ihm zwar Aufmerksamkeit schenkt, die aber genauso neurotisch ist wie seine alte.

Für das an zuckersüße Disneywelten gewöhnte amerikanische Publikum ist das eine Prise zu viel. Die Kritik lobt zwar den jungen Hauptdarsteller Max Records sowie die wunderbaren Monster, gespielt unter anderem von James Gandolfini und Forest Whitaker. Die Kritik ist sich aber durchweg einig, dass dieser Film nicht für Kinder geeignet ist.

Filmemacher Jonze hält das für ein Missverständnis. Er wolle zwar, dass Kinder sich den Film anschauen, „Where the Wild Things Are“, so lautet der Originaltitel, sei aber nicht unbedingt in erster Linie als Kinderfilm gedacht gewesen. Es sei vielmehr „ein Film darüber, was es bedeutet, ein Kind zu sein“, mit allen Ängsten und Komplikationen und mit allen widersprüchlichen Gefühlen, mit denen man als Achtjähriger ringt. „Wir haben den Film gemacht, um etwas zu erzählen und nicht, weil wir eine bestimmte Wirkung auf das Publikum haben wollten.“

Der mittlerweile 81-Jahre alte Sendak, der sich seit 40 Jahren die Kritik der Jugendgefährdung anhören muss, stärkt Jonze den Rücken: „Wir sind alle disneyfiziert und wollen nicht, dass unsere Kinder leiden. Aber die Frage ist doch, wie wir mit der Tatsache umgehen, dass sie es in Wirklichkeit tun.“ Die Antwort sagt er, sei, die Angst des Kindes in Kunst zu verwandeln. Wer das nicht aushalte, der solle „aus dem Kino gehen oder sich während der Vorführung Windeln anziehen oder zur Hölle fahren“. Er und Jonze zeigten schließlich nur die Wahrheit. Und die müssten auch Eltern zu verkraften lernen. Kinder, da ist er sich ganz sicher, könnten das ganz gut. Aber die hat in der ganzen Angelegenheit bislang noch niemand gefragt.

In Deutschland startet der Film „Wo die wilden Kerle wohnen“ am 17. Dezember in den Kinos.

Sebastian Moll[New York]

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