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Lernen oder ausschlafen? Am Gymnasium Alsdorf haben die Oberstufenschüler in der ersten Stunde die Wahl.

© dpa

Debatte um späteren Schulbeginn in Deutschland: Gymnasium mit Gleitzeit

Schulbeginn um acht Uhr morgens widerspricht der inneren biologischen Uhr von Jugendlichen. Ein Gymnasium in Alsdorf reagiert darauf – und führt die Gleitzeit für Schüler ein.

Wenn Robert Rauh seinen Schülern einen schwierigen Stoff beibringen will, meidet er die erste Schulstunde. „In manchen Klassen wäre das ein didaktisches Himmelfahrtskommando“, sagt der 48 Jahre alte Lehrer vom Berliner Barnim-Gymnasium, „viele Schüler sind um 8 Uhr morgens noch nicht in der Lage, sich zu konzentrieren.“ Der Lehrer des Jahres 2013 in Berlin vermutet, dass bei einer Klasse ein und derselbe Test um 8 Uhr schlechtere Noten ergeben würde als um 11 Uhr. Robert Rauh hat daher einen Aufruf (www.schul-gerecht.de) gestartet, in dem er neben anderen Punkten auch einen späteren Schulbeginn fordert. Im Gymnasium Alsdorf bei Aachen ist das schon Realität.

In Alsdorf können die Oberstufenschüler wählen, ob sie direkt zur ersten Stunde um 8 Uhr kommen – oder doch erst zur zweiten gegen 9 Uhr. „Supercool, wir können ausschlafen“, sagt Schulsprecher Lars Meyer. Damit geht das Alsdorfer Gymnasium als erste Schule in Deutschland auf die innere Uhr von Jugendlichen ein, lobt der Chronobiologe Professor Till Roenneberg von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Diese Uhr ticke nämlich anders als bei Erwachsenen, erklärt er: Bei der Synchronisation mit dem Tag-Nacht-Rhythmus geht die innere Uhr der meisten Jugendlichen etwa bis zum 20. Lebensjahr nach. Sie können erst später einschlafen. Müssen sie entgegen ihrer biologischen Uhr schon um acht in der Schule sein, entstehe ein „sozialer Jetlag“. Drei Viertel der Jugendlichen hätten damit zu kämpfen, sagt Roenneberg: Die Schüler sitzen dann halb schlafend im Unterricht.

Robert Rauh kennt das Bild. Der frühe Unterrichtsbeginn habe nur einen lehrerfreundlichen Nebeneffekt, sagt der Lehrer für Geschichte, Politik und Deutsch: Am frühen Morgen habe man weniger Disziplinprobleme. „Die Schüler schlafen noch halb“, sagt er. Die Resonanz auf seine Forderung nach späterem Schulbeginn war groß, viel geändert hat sich allerdings nicht. Das John-Lennon-Gymnasium in Mitte befragte sein Schüler – mit einem interessanten Ergebnis: Sie waren mehrheitlich gegen einen späteren Schulbeginn. „Sie hatten Angst, dass die Schule noch später endet und ihre Freizeit noch kürzer wird“, berichtet Robert Rauh. Er plädiert für eine Straffung des Lehrplans und eine Reduzierung der Stundenzahl an Gymnasien. Auch in der Politik mehren sich Stimmen für einen späteren Unterrichtsbeginn.

Der spätere Schulbeginn passt in die Lebenswelt der Jugendlichen

Die Landesvorsitzende der Berliner Grünen, Bettina Jarasch, lobte, das Alsdorfer Modell gefalle ihr. Auch in Berlin gebe es Schulen mit gleitendem Beginn und offener Schlussphase, die damit sehr gute Erfahrungen machten. „Schulen sollten die Freiheit haben, flexibel auf die Bedürfnisse aller Beteiligten zu reagieren“, sagte die Grünen-Politikerin. Dafür müsse es aber auch einen Wandel in der Wirtschaft geben, hatte Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) im „Spiegel“ gesagt. Nach Einschätzung von Eltern passe ein späterer Schulbeginn nicht zur Arbeitswelt, erläuterte sie.

Aber er passt in die Lebenswelt der Jugendlichen. „Die erste Stunde war immer eine Quälerei für mich. Ich war noch nicht richtig wach“, erzählt der 17-jährige Luca Diehr in Alsdorf. Jetzt kommt er meistens erst zur zweiten Stunde und fühlt sich fit. Natürlich gibt es auch Schüler wie die 17-jährige Milena Kandetzki: „Ich habe kein Problem früh aufzustehen und komme immer zur ersten Stunde.“ Dass die Gleitzeit in Alsdorf organisatorisch möglich ist, hängt mit dem besonderen Unterrichtskonzept zusammen, wie Schulleiter Wilfried Bock sagt.

Unterrichtet wird nach dem Dalton-Plan der US-Pädagogin Helen Parkhurst. Neben den herkömmlichen Stunden können sich die Schüler pro Woche zehn Unterrichtsstunden selbst einteilen, um Aufgaben eigenständig zu lösen. Die erste Stunde ist in Alsdorf eine Dalton-Stunde, in der Schüler aus unterschiedlichen Klassen und Jahrgängen bei einem Lehrer ihrer Wahl arbeiten . Sie entscheiden selbst, mit wem sie arbeiten und woran. Erst ab der zweiten Stunde herrscht Anwesenheitspflicht.

Joelle und Julia, beide 16, sind schon zur ersten Stunde gekommen und machen Biologie, andere lernen im selben Klassenraum Englisch oder Mathe. Wenn die Stunde vorbei ist, bekommen sie dafür vom Lehrer einen Stempel. Luca Diehr schläft lieber aus und holt den Unterricht in Freistunden nach: „Früher haben wir in den Freistunden Karten gespielt, jetzt arbeitet man und kann dafür länger schlafen“, berichtet der Alsdorfer Schüler.

Wie verändert sich der Schlaf der Schüler durch die Umstellung, fragt Wissenschaftler Roenneberg. Er hat die Einführung der Gleitzeit wissenschaftlich begleitet. Das Ergebnis der Auswertung wird im Sommer erwartet. mit dpa

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