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Der wegen mehrfachen Mordes an Patienten angeklagte Niels H. auf der Anklagebank im Landgericht Oldenburg (Niedersachsen).

© Ingo Wagner/dpa

Update

Delmenhorst: Kranken tödliche Dosis gespritzt: Pfleger unter Mordverdacht: Soko exhumiert acht Leichen

Mehr als 200 Patienten könnte ein Krankenpfleger getötet haben. Mehr als zehn Jahre ist das her - die Opfer sind schon lange beerdigt.Jetzt lässt die Polizei einige Leichen ausgraben.

Nach der mutmaßlichen Mordserie eines früheren Krankenpflegers in Norddeutschland wollen die Ermittler in den nächsten Wochen acht Leichen exhumieren. Für vier weitere Tote liegen ebenfalls Genehmigungen vor. Alle zwölf waren Patienten am Klinikum im niedersächsischen Delmenhorst. Polizei und Staatsanwaltschaft verdächtigen den ehemaligen Pfleger, den Kranken eine Überdosis eines Herzmedikaments gespritzt und dadurch tödliche Komplikationen verursacht zu haben. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass sich der Mann bei den anschließeenden Reanimationsversuchen vor seinen Kollegen beweisen wollte.

Auf welchem Friedhof in der Region die Ermittler Leichen ausgraben lassen werden, sagten sie nicht. „Wir wollen verhindern, dass viele Schaulustige das Geschehen vor Ort verfolgen“, sagte am Montag der Präsident der Polizeidirektion Oldenburg, Johann Kühme. Die Familien der Toten seien informiert.

Der Angeklagte hat bereits gestanden

Der Ex-Pfleger muss sich seit September 2014 vor dem Landgericht Oldenburg wegen dreifachen Mordes und zweifachen Mordversuchs an Patienten auf der Delmenhorster Intensivstation verantworten. Schon vor diesem Verfahren waren einige Leichen exhumiert worden - der Mann wurde aber nur wegen der insgesamt fünf Fälle angeklagt. Im Prozess hat er dann gestanden, für den Tod von bis zu 30 Patienten verantwortlich zu sein.

Seit November überprüft die 15-köpfige Sonderkommission „Kardio“ alle Todesfälle, für die der 38-Jährige verantwortlich sein könnte. Allein am Klinikum Delmenhorst geht es um 174 Verdachtsfälle. Der Angeklagte hatte dort seit dem Jahr 2003 gearbeitet. Ein Gutachter hat inzwischen die Krankenakten von 23 Patienten analysiert. Bei 12 von ihnen sei der Tod nicht anhand des Krankheitsverlaufs erklärbar, sagte die zuständige Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann.

Die Sonderkommission will jetzt mehrere Gräber an einem Tag öffnen lassen. Danach sollen Rechtsmediziner die Leichen auf Spuren des Herzmedikaments untersuchen. Außerdem sollen Experten Bodenproben aus den Gräbern nehmen. Das Ziel sei, die Toten noch am selben Tag wieder zu beerdigen, sagte Soko-Leiter Arne Schmidt.

Dazu kommen mehr als 20 verdächtige Todesfälle am Klinikum Oldenburg, wo der Pfleger vor seiner Zeit in Delmenhorst gearbeitet hatte. Außerdem überprüfen die Ermittler den Tod von 8 Patienten bei den Rettungssanitätern im Kreis Oldenburg, für die der Pfleger von 2002 bis 2005 in seiner Freizeit fuhr. Der Angeklagte bestreitet, an anderen Orten als am Delmenhorster Klinikum Menschen geschadet zu haben. „Es handelt sich um ein laufendes Ermittlungsverfahren“, betonte Schiereck-Bohlmann. Deshalb könnten jederzeit neue Verdachtsfälle dazukommen. Wie viele Leichen die Ermittler am Ende exhumieren müssten, sei noch nicht absehbar.

Tot der Patienten billigend in Kauf genommen

Der Angeklagte beteuerte am Donnerstag erneut, außerhalb von Delmenhorst keinem Patienten geschadet zu haben. Zu seinen Motiven sagte er vor Gericht: „Es war eine Anspannung da und eine Erwartungshaltung, was passiert gleich.“ Nach einer erfolgreichen Wiederbelebung habe er sich gut gefühlt. Wenn der Patient gestorben sei, sei er jedoch niedergeschmettert gewesen. Dann habe er sich vorgenommen, keine tödlichen Notfälle mehr auszulösen. Das Gefühl habe aber nicht lange angehalten. „Das verblasste mit der Zeit.“

Seine Taten seien abscheulich und nicht nachvollziehbar, sagte die Oberstaatsanwältin. „Den Tod der Patienten hat er zumindest billigend in Kauf genommen.“ Die Anklagevertreterin sprach von einer besonderen Schwere der Schuld. Eine Sicherungsverwahrung forderte sie nicht, da keine Rückfallgefahr bestehe. Wenn sich die weiteren Vorwürfe gegen den Ex-Pfleger bestätigen sollten, könnte es laut Staatsanwaltschaft eine weitere Anklage und einen weiteren Prozess gegen den Mann geben. Am Nachmittag wollte die Nebenklage in dem Prozess ihr Plädoyer halten. In der kommenden Woche ist nach den Plänen der Kammer die Verteidigung an der Reihe, im Anschluss wollen die Richter das Urteil verkünden.

Er wollte ein guter Pfleger sein

Sein Vater war ebenfalls Krankenpfleger und ein großes Vorbild. Wenn sie zusammen durch ihre Heimatstadt Wilhelmshaven gingen, grüßten Menschen den Vater dankbar. Viele von ihnen hatte er gesund gepflegt. Genau das wollte auch der Sohn sein: Ein Pfleger, dem das Wohl seiner Patienten am Herzen liegt, der immer ein freundliches Wort für sie übrig hat. Doch dieses Ziel verlor er irgendwann aus den Augen. Statt Kranken zu helfen, soll er viele von ihnen getötet haben. Wie kam es dazu? Seit September steht der heute 38-Jährige in Oldenburg vor Gericht.

Angeklagt ist er wegen dreifachen Mordes und zweifachen Mordversuchs an Patienten am Klinikum in Delmenhorst. Gestanden hat er weit mehr Taten. 90 Menschen will er eine Überdosis eines Herzmedikaments gespritzt haben, bis zu 30 Patienten sollen gestorben sein. Was in dem massigen Mann vorgeht, können Prozessbeobachter nur erraten.

In der Schule war er der Klassenclown

Bisher hat sich der Angeklagte nicht detailliert zu den Vorwürfen geäußert. Am Donnerstag wollen ihn die Richter erstmals ausführlich befragen. Einem psychiatrischen Gutachter hat er sich bereits anvertraut. Der beschreibt den Angeklagten als einen unsicheren Menschen. In der Schule spielt er den Klassenclown, um Anerkennung zu bekommen. Später tritt er - auch deshalb - in die Fußstapfen seines Vaters. Alles läuft gut, bis der junge Pfleger ans Klinikum Oldenburg wechselt. Die Arbeit auf der Intensivstation empfindet er als traumatisch. Die an piepsenden Geräten und Schläuchen hängenden Kranken nimmt er laut Gutachten kaum noch als Menschen wahr. Doch wann immer ein Patient wiederbelebt werden muss, ist er in seinem Element. Dann kann er beweisen, was ihn ihm steckt.

„Ich habe mich in der Zeit zu einem richtigen Großkotz entwickelt“, erzählt der Angeklagte später dem Gutachter. In Delmenhorst, wohin der Pfleger 2003 wechselt, geht es dagegen deutlich ruhiger zu. Ihm fehlt die Aufregung, der Kick. Um die innere Leere zu füllen, löst er, so die Darstellung, immer wieder Notfälle bei schwer kranken Patienten aus, oft tödliche Notfälle. Das Hochgefühl in ihm soll danach tagelang angehalten haben.

Der Alltag im Krankenhaus ist knallhart

Der Psychiatrie-Professor Karl Beine, der 36 Mordserien an Krankenhäusern untersucht hat, sieht ein typisches Verhaltensmuster: „Diese Menschen ergreifen oft einen helfenden Beruf, um sich selbst besser zu fühlen.“ Doch die Erwartungen würden enttäuscht. Denn der Alltag im Krankenhaus ist knallhart, Lob selten. Typisch sei auch, dass es mehr als zwei Jahre gedauert habe, bis die Mordserie am Delmenhorster Klinikum aufgeflogen sei. Ein Pfleger, der Patienten tötet? Für die Kollegen unvorstellbar - und ein Skandal für eine Klinik.

Nicht nur in Delmenhorst, auch schon in Oldenburg gibt es Gerede über den Angeklagten. Als „Rettungsrambo“ bezeichnen ihn Kollegen und als „Pechvogel“, weil es während seiner Schichten immer dramatische Zwischenfälle gibt. Das Oldenburger Klinikum will den Pfleger irgendwann nur noch loswerden - und stellt ihm ein gutes Arbeitszeugnis aus. In Delmenhorst dann gibt es neben Gerüchten ganz konkrete Hinweise, wie sich im Prozess zeigt. Die Sterberate auf der Intensivstation verdoppelt sich von 2003 bis 2005 beinahe. Der Verbrauch des Herzmedikaments steigt sprunghaft.

Prof. Karl H. Beine
Der Psychiater Prof. Karl H. Beine hat 36 Mordserien an Krankenhäusern untersucht.

© dpa

Die Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen gegen acht Mitarbeiter an beiden Kliniken wegen Totschlags durch Unterlassen. Außerdem lässt sie den Tod von mehr als 200 Patienten an allen Arbeitsstätten des Pflegers untersuchen. Der Angeklagte selbst bestreitet, an anderen Orten als in Delmenhorst Menschen geschadet zu haben. Ob das glaubwürdig ist, daran hat der Vorsitzende Richter wegen der Gerüchte in Oldenburg jedoch schon Zweifel geäußert.

Interview mit dem Psychiater Prof. Karl Beine

Im Krankenhaus fällt ein Mord nicht so schnell auf - Sterben gehört hier zum Alltag. Ein Mord ist hier aber auch besonders schwer zu fassen. Weshalb wird ein Pfleger zum Täter? Es ist der Alptraum jedes Patienten: Ein Pfleger tötet immer wieder kranke Menschen - und lange wird niemand hellhörig. Am Landgericht Oldenburg hat der Mann 90 Taten gestanden, bis zu 30 Patienten sollen in Delmenhorst gestorben sein. Der Psychiater Prof. Karl Beine hat 36 Mordserien an Krankenhäusern untersucht. Was in den Tätern vorgeht, erläutert der Experte in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur.

Frage: Der in Oldenburg angeklagte Ex-Pfleger will bis zu 30 Patienten getötet haben. Ist das verglichen mit anderen Fällen viel?

Antwort: Für deutsche Verhältnisse ist das schon eine herausragende Geschichte. Im internationalen Vergleich liegt sie aber eher im Durchschnitt. In den USA gibt es Fälle mit deutlich mehr Opfern.

Frage: Wieso wird ein Mensch, der Patienten helfen will, zum Mörder?

Antwort: Diese Menschen ergreifen oft einen helfenden Beruf, um sich selbst besser zu fühlen. Sie haben - wie in diesem Fall auch - hohe Ideale. Gleichzeitig sind sie mit einem geringen Selbstwertgefühl ausgestattet. Durch die Arbeit wollen sie sich selbst aufwerten und Anerkennung bekommen. Doch sie werden zwangsläufig enttäuscht. Die pflegerische Arbeit ist belastend. Sie wird nicht gut bezahlt.
Dadurch kommt eine Abwärtsspirale in Gang: Das fremde Leiden wird zum eigenen Leiden. Am Ende eines langen Prozesses tötet der Mensch einen anderen, damit es ihm selbst bessergeht.

Frage: Mehr als zwei Jahre lang soll der Ex-Pfleger Patienten getötet haben - und ist dabei immer unvorsichtiger geworden. Wieso hat es so lange gedauert, bis die Mordserie aufgefallen ist?

Antwort: In diesem Beruf ist es geradezu unvorstellbar, dass ein Kollege Patienten tötet statt ihnen zu helfen. Außerdem gibt es Aufdeckungsbarrieren in den Krankenhäusern. Das war auch in diesem Fall so, dass es Gerede über den Angeklagte gab, dass er bestimmte Spitznamen hatte. Man ahnte, dass etwas nicht stimmte. Auch dass der Medikamentenverbrauch überproportional gestiegen ist, war ein Warnsignal. Trotz konkreter Hinweise wurde nicht reagiert. Da sehe ich eindeutig Versäumnisse.

ZUR PERSON: Der Psychiater Prof. Karl Beine ist Lehrstuhlinhaber an der Privaten Universität Witten/Herdecke und Chefarzt am St.- Marien-Hospital Hamm.

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