zum Hauptinhalt

Demografie: Das Ein-Generationen-Haus: 20 Alte gründen WG

Vielen graut vor dem Ruhestand. Sie fürchten, aufs Abstellgleis zu geraten, haben Angst vor Einsamkeit. Deshalb haben sich in Stade 20 Alte ein eigenes Haus gebaut. Ergebnis: „Bei uns bleibt keiner allein“.

Es war wie ein kleiner Tod, als er den ersten Schritt in Richtung Ruhestand und Alter machte. Später war es wie eine Wiedergeburt.

Etwa zwölf Jahre ist es her. Dass jener Schritt überhaupt etwas mit Ruhestand und Alter zu tun hatte, das sollte Michael Lohmeyer, heute 62, aber erst später merken. Damals sagte er einfach zu seinem Chef, „ich will nicht mehr angestellt sein“. Er sei ausgebrannt, acht Stunden oder länger im Büro sitzen zu müssen, das könne er nicht länger, er brauche mehr Zeit für sich, wolle selbstständig arbeiten, frei sein. Die evangelische Kirche, wo er als Berater arbeitete, entließ ihn.

Doch als es so weit war und die Kollegen und das Büro aus seinem Alltag verschwunden waren, fühlte Michael Lohmeyer sich nicht frei. Es war Winter, graue Tage folgten grauen Tagen, er hatte wenig zu tun und viel Zeit zu grübeln. Plötzlich zweifelte er an seinem Schritt. Ihm fehlten die Routine, die Rolle, die er im Betrieb gespielt, die Anerkennung, die er vom Chef und den Kollegen bekommen hatte. Und er wusste nicht, was er mit der freien Zeit anstellen sollte.

Michael Lohmeyer, schlank und sportlich, fühlte sich alt und nicht gebraucht. Und fragte sich: „Oh Gott, wie soll das werden, wenn ich erst wirklich nicht mehr arbeite – und noch älter werde?“

Die Angst vor dem Ruhestand. Immer wieder taucht sie auf. Ganz aktuell in der öffentlichen Debatte um die Altersarmut, um die sogenannte Rentenlücke. Meistens aber bleibt die Angst im Privaten und weniger konkret, kündigt sich an mit einem Unbehagen. Das beginnt schon beim Wort. Ruhestand – das klingt nach Stillstand, Bewegungslosigkeit. Nach Abstellgleis.

Michael Lohmeyer jedenfalls ahnte, dass dieser Lebensabschnitt, vor dem er sich fürchtete, sehr lange dauern kann. Wer heute in den Ruhestand geht, hat noch ein Viertel seines Lebens vor sich, vielleicht sogar mehr. Die Lebenserwartung, die in früheren Zeiten durchschnittlich zwischen 40 und 45 Jahren lag, steigt dank medizinischer Fortschritte schon seit Jahrzehnten massiv an und wird im Jahr 2050 bei 84,5 Jahren für Frauen und bei 80,5 für Männer liegen. Und das sind nur Durchschnittswerte. In der Spitze sehen die Zahlen noch eindrucksvoller aus: Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatten nur zwölf Prozent der Frauen in Deutschland die Chance, das 80. Lebensjahr zu erreichen. Am Jahrhundertende waren es schon 60 Prozent. 90 Jahre alt zu werden war nur einem Prozent der Frauen vergönnt und nur 0,5 Prozent der Männer. 100 Jahre später waren es 20 Prozent. Und das Statistische Bundesamt kommt zu der Erkenntnis: „Eine Obergrenze der Lebenserwartung gibt es nicht.“

Er fühlte sich nutzlos, unglücklich. Aber dann machte er einen Plan

So viele Jahre, so viel Zukunft. Deshalb, dachte Michael Lohmann, muss ich jetzt etwas tun. Damit die Zukunft eine Zukunft voller Leben ist. „Ich muss Herr über meine Zeit sein“, sagte er sich. Und er machte einen Plan.

Dass er jetzt, am Donnerstagvormittag, mit drei Nachbarinnen und einem Nachbarn in Stade bei Hamburg im Garten auf einer Holzbank sitzt, eingewickelt in eine Wolldecke, und Kaffee trinkt, ist Teil des Plans. Er gießt sich die dritte Tasse Kaffee ein. Dann lehnt er sich zurück und blinzelt in die Sonne, die durch die blühenden Kastanienbäume scheint. „Das ist für mich das echte Leben“, sagt Lohmeyer. Er lächelt. Dass er mit der Wolldecke wirklich wie ein alter Mann aussieht – seine Nachbarn erinnern ihn daran – macht ihm nichts. „Jetzt bin ich genau da, wo ich eigentlich sein will.“

Er sagt, „bewusst selbstständig sein, also nur so viel arbeiten wie nötig, viel Zeit haben – ich würde sagen, das ist die beste Voraussetzung für den Ruhestand“. Heute berät Lohmeyer freiberuflich Organisationen im Umbruch, zum Beispiel Kirchengemeinden, die sich zusammenschließen. Er ist jetzt Experte in Sachen Ruhestand, weiß, dass man am Anfang leiden muss, wenn ein neuer Lebensabschnitt kommt.

Die Selbstständigkeit aber war nur der erste Schritt in Richtung glückliches Älterwerden, und Lohmeyer ging ihn noch zufällig. Wenig später machte er den zweiten Schritt, ganz bewusst. Er war schon Teil des Plans.

Der Anstoß kam von seiner Frau Andrea und von einem befreundeten Paar, Gisela und Walter Punke. Der sitzt an diesem Vormittag ebenfalls im Garten. Eines Abends beim Wein sagten die beiden Frauen, sie wollen nicht alleine mit ihren Männern alt werden, sondern auch mit anderen Gleichaltrigen. Sie erklärten, dass sie darüber nachdächten, ein Wohnprojekt für Ältere zu gründen. Weil man auch als Ehepaar vereinsamen könne. Und sie sagten: Stellt euch vor, einer stirbt vor dem anderen!

Die beiden Frauen dachten nicht an eine Wohngemeinschaft, sondern an ein großes Haus mit vielen Wohnungen, in denen Menschen zwischen 60 und 80 Jahren unabhängig und doch zusammen leben.

Erst mal sagte Lohmeyer nichts, als er den Vorschlag hörte. Er war skeptisch.

Das änderte sich wenig später. Er war mit seiner Frau im Urlaub in Südfrankreich, da ereilte ihn ein Notruf seiner 80-jährigen Mutter. Sie war in ihrer Wohnung in Hannover zusammengebrochen, wahrscheinlich ein Schlaganfall. Die Lohmeyers brachen den Urlaub ab, rasten nach Hannover, fanden die alte Frau verwirrt und alleine. Sie räumten die vollgestopfte Wohnung aus und hatten den Eindruck, das Alleinleben war der Mutter zu viel geworden. Sie suchten ein Pflegeheim und sahen viele Orte, an denen sie niemals leben wollten. Da sagte Michael Lohmeyer zu seiner Frau, ich will auch das Alten-Haus.

Im Alter mit Gleichgesinnten in ein großes Haus ziehen. Die Vorstellung haben viele. Doch die wenigsten verwirklichen sie. Mindestens jeder Dritte über 55-Jährige denkt darüber nach, in ein solches Wohnprojekt zu ziehen, glaubt Andrea Töllner vom Forum Gemeinschaftliches Wohnen e. V., das Wohnprojekte wie das in Stade berät und begleitet. Tatsächlich ist es eine gute Entscheidung: Studien belegen, dass ältere Menschen, die in Wohnprojekten zusammenleben, viel seltener und viel später in Pflegeheime müssen als jene, die alleine leben. Töllner schätzt, dass es in Deutschland aber nur etwa 3000 Häuser gibt, darunter auch einige, in denen mehrere Generationen zusammenwohnen. „Oft verhindern finanzielle Schwierigkeiten das Projekt, entweder weil sich kein Investor findet oder weil die Menschen Angst vor den Kosten haben, die auf sie zukommen können. Noch öfter scheitert es daran, dass die Menschen sich die Veränderung dann doch nicht zutrauen.“

„Ich glaube, vielen von uns Männern fehlt die soziale Fantasie, um uns solche alternativen Lebensmodelle auszumalen“, sagt Michael Lohmeyer jetzt im Garten. „Ohne meine Frau wäre ich nie auf die Idee gekommen, in ein Hausprojekt zu ziehen.“

Der Garten, in dem er gerade sitzt, gehört zu jenem Alten-Haus, von dem seine Frau und die Freundin an jenem Abend sprachen und das jetzt, fast zehn Jahre später, Wirklichkeit geworden ist. Und die Nachbarn, mit denen er Kaffee trinkt, sind ein paar von den Menschen, mit denen er und seine Frau alt werden. Insgesamt leben in dem Haus 20 Mitbewohner – vier Paare und zwölf alleinstehende Frauen.

Gretel Betz, die an diesem Donnerstagvormittag ebenfalls im Garten sitzt, suchte schon lange, bevor sie einzog, nach einem Wohnprojekt für Ältere. „Das erste Mal machten die Leute, mit denen ich zusammenziehen wollte, einen Rückzieher, als es konkret wurde – sie konnten sich doch nicht vorstellen, ihre eigenen Wohnungen aufzugeben“, erzählt sie. „Das zweite Mal ging es nicht voran, weil nicht klar war, wie das Haus für das Wohnprojekt finanziert werden sollte.“

Dass es schließlich geklappt hat, hat viel mit Lohmeyers und Punkes zu tun. Gisela Punke arbeitet in einem Mehrgenerationenhaus, einer Begegnungsstätte für Menschen unterschiedlichen Alters, Walter Punke ist Pastor, Michael Lohmeyer Berater. Sie kennen Werkzeuge, um Konflikte zu lösen, sie wissen, dass es normal ist, wenn es mal kracht. Und sie haben Überzeugungskraft.

In einer Kleinanzeige suchten sie Interessenten für ihr Projekt. Sie wollten erst einmal herausfinden, ob überhaupt Nachfrage bestand. Der Versammlungssaal war so voll, dass sie das Treffen abbrechen mussten. Die beiden Ehepaare setzten sich zusammen und fällten eine erste Entscheidung: Das Wohnprojekt sollte nicht auf dem Land umgesetzt werden, sondern in einer Stadt, am besten in Stade, wo sie auch damals lebten. Das schrieben sie in die zweite Kleinanzeige. Zu dem Treffen kamen etwa 20 Leute. Sie besprachen, wie sie wohnen wollten, wie viele Gemeinschaftsräume sie brauchten, wie groß die Wohnungen sein sollten, und verabredeten sich wieder.

Männer haben mit der Rente oft mehr Probleme als Frauen

Später luden sie eine Beraterin vom Forum für Gemeinschaftliches Wohnen ein. Und schließlich stellten die 20 ihr Projekt dem Geschäftsführer der Wohnungsstätte von Stade vor. Der war sofort begeistert, sagte, er habe schon länger darüber nachgedacht, so ein Wohnprojekt in der Gemeinde zu initiieren. Und irgendwann versprach er, dass die Wohnstätte das Haus für das Altenwohnprojekt bauen würde. Etwa drei Jahre später, im Winter 2011/2012 zogen die Lohmeyers, die Punkes, Gretel Betz und 15 weitere ältere Menschen in ihre Mietwohnungen im Alten-Haus.

Gretel Betz, die auch mit Lohmeyer im Garten sitzt, sagt, „um das Alter zu genießen, muss man das Leben genießen können. Man muss im Jetzt leben können. Zukunft – das ist kein Lebensinhalt mehr.“ Eine andere Nachbarin ergänzt: „In einem halben Jahr könnte es schließlich vorbei sein.“ Und eine Dritte sagt: „Oder übermorgen. Oder morgen.“

Alle drei Frauen sind im Ruhestand, Betz war Grundschulrektorin, die zweite Nachbarin Sozialpädagogin, die dritte Steuerberaterin. Alle drei haben sich gefreut, als sie endlich ihre Arbeit aufgeben durften. Alle drei haben trotzdem nach einem Jahr wieder angefangen, ein paar Stunden in ihrem alten Beruf zu arbeiten.

Der zweite Mann in der Runde, Walter Punke, der Einzige, der noch als Angestellter arbeitet, sagt jetzt: „Ich finde meinen Job toll.“ Er ist Pastor, 63 Jahre alt. „Ich genieße den öffentlichen Auftritt. Wenn ich in Rente gehe, will ich unbedingt selbstständig weiterarbeiten. Ich glaube, ich muss eher aufpassen, nicht zu viel zu machen.“

„Wir Männer kämpfen mit der Bedeutungslosigkeit, die mit dem Ruhestand kommt, viel mehr als Frauen“, sagt Michael Lohmeyer nach einer Pause. Walter Punke nickt. „Wahrscheinlich.“

Gretel Betz sagt, „der Ruhestand ist für mich eine Riesenverbesserung gegenüber früher: Alles, was ich heute mache, mache ich freiwillig. Das ist Lebensqualität.“ Sechs Stunden in der Woche unterrichtet sie an einer Berufsschule. In den Sommerferien unterstützt sie Hilfsorganisationen in Afrika, zum Beispiel beim Aufbau von Schulen.

Hört man Michael Lohmeyer, Gretel Betz und den anderen zu, dann beginnt man zu begreifen: Vielleicht ist es leichter, den Ruhestand zu ertragen, wenn man sich darauf vorbereitet, wenn man sich ganz bewusst mit den Fragen des Älterwerdens auseinandersetzt? Zum Beispiel mit der Tatsache, dass man nur noch eine beschränkte Lebenszeit vor sich hat? Vielleicht kann der Ruhestand dann sogar richtig schön werden?

Gertrud Paar, die frühere Sozialpädagogin und mit 77 die älteste Bewohnerin des Alten-Hauses, erzählt irgendwann an diesem Vormittag im Garten eine Geschichte.

An einem ihrer ersten Abende in Stade wollte sie sich den Keller ansehen, sie fuhr mit dem Aufzug hinunter. Unten angekommen, blieb die Tür verschlossen. Gertrud Paar drückte alle Knöpfe. Nichts geschah. Der Aufzug steckte fest. Sie rief um Hilfe, niemand hörte sie. Irgendwann legte sich Gertrud Paar auf den Boden, stampfte mit den Füßen gegen die Aufzugwand und rief weiter um Hilfe. Als sie das letzte Mal auf ihre Uhr sah, war es elf Uhr abends. Drei Stunden war sie schon im Aufzug gefangen.

An jenem Abend baute Gretel Betz gerade in ihrer Wohnung Möbel auf. Als alle Zimmer eingerichtet waren, lag auf dem Wohnzimmerboden noch ein Regal. Betz rief den Aufzug, um es in den Keller zu bringen. Doch der Lift kam nicht, stattdessen hörte sie Hilferufe, ganz leise. Sie lief ins Erdgeschoss. Nichts. Dann in den Keller. Dort hörte sie Gertrud Paar. „Bleib ganz ruhig“, rief Betz ihr zu. „Ich rufe den Hausmeister.“

Jetzt sagt Paar, „bei uns bleibt keiner alleine“.

Vielleicht reicht das schon.

Zur Startseite