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Panorama: Denkt negativ!

Warum Pessimismus und Melancholie kreativ machen – und sogar gesund sind

Die Deutschen gelten schon lange als schwermütig und eher pessimistisch. Das täglich aktualisierte „Depressions-Barometer“, das vom Management Zentrum der Universität Witten vor einiger Zeit ins Netz gestellt wurde, scheint das zu bestätigen: Die deutschen Teilnehmer erreichen auf der Skala derzeit einen Mittelwert von etwas über 30 (von maximal erreichbaren 105) Punkten, der internationale Wert liegt bei 17. Ab 40 Punkten könne eine Depression vorliegen, schreiben die Macher der Website. Sind wir also eine Nation von behandlungsbedürftigen Depressiven – die sich nun auch noch in der großen Ausstellung „Melancholie“ bestätigen lässt, dass künstlerische Kreativität und Schwermut nahe Verwandte sind?

Das wäre wohl etwas zu kurz geschlossen. „Behandlungsbedürftige Depressionen sind in Deutschland nicht häufiger als in anderen vergleichbaren Ländern“, versichert Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie am Campus Benjamin Franklin der Charité. Wenn schon, dann gebe es überall auf der Welt Anlass zur Besorgnis, denn Depressionen nehmen weltweit zu. 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung der Industrienationen litten mindestens einmal im Lauf des Lebens an einer behandlungsbedürftigen Depression.

Aber nicht jeder Pessimist ist depressiv. „Zwar stimmt es, dass zu einer Depression immer eine pessimistische Weltsicht gehört“, erläutert Heuser. Doch nicht wenige Menschen sind „habituelle Pessimisten“, neigen also seit eh und je dazu, vom Leben im Allgemeinen und von ihren Mitmenschen im Besonderen nicht allzu viel zu erwarten. Möglicherweise ist das sogar günstig: Die Veranlagung zum Pessimismus habe durchaus gute Seiten, meint jedenfalls die US-Psychologin Julie Norem in ihrem Buch „Die positive Kraft des negativen Denkens“. Wer Enttäuschungen erwarte, könne einen Misserfolg leichter ertragen. Ein defensiver Pessimismus befähigt ängstliche Menschen dazu, ihr Leben umsichtig zu planen. Und: Pessimisten können besser mit Kritik umgehen als Optimisten, die oft ein übersteigertes Selbstbild haben und sich in Illusionen flüchten. Psychiaterin Heuser ergänzt: „Man könnte die Hypothese aufstellen, dass eine pessimistische Grundhaltung sogar vor Depressionen schützen kann.“ Denn hohe Erwartungen provozieren Enttäuschungen – und die produzieren Stress.

Ob eine pessimistische Weltsicht Ausdruck einer akuten Depression ist oder aber ein Merkmal des Charakters, das weiß der Betroffene selbst am besten. Wer immer schon Pessimist war, wird deshalb kaum zum Arzt gehen. „Die Patienten kommen dagegen zu uns und klagen: Ich war sonst immer ziemlich obenauf, ich kenne negative Stimmungen und diese pessimistische Weltsicht von mir selbst gar nicht“, sagt die Psychiaterin. Wer unter einer Depression leidet, klagt nicht allein über die trübe Sicht der Dinge, sondern auch darüber, nicht mehr richtig arbeiten zu können, keinen Antrieb und keine Ideen zu haben, sich nicht konzentrieren zu können: „Das sagen uns auch Künstler.“ Und Heuser ergänzt: „Eine ausgewachsene Depression ist auch etwas völlig anderes als das süße Ziehen in der Brust, das eine wehmütige Stimmung bisweilen sogar angenehm machen kann.“

Damit sind wir bei der Melancholie, der in der Neuen Nationalgalerie in Berlin eine große Ausstellung gewidmet ist. Den mehr als 300 berühmten Gemälden, Plastiken, Grafiken und Fotografien sind Zitate beigestellt, die das Image des Melancholikers als vergeistigten und kreativen Menschen zeigen: „Der, dessen Gefühl ins Melancholische umschlägt, (…) hat vorzüglich ein Gefühl für das Erhabene“, befand Immanuel Kant. Einige Künstler folgten eher einer Mode ihrer Zeit, andere standen wahrscheinlich an der Schwelle zu einer psychischen Erkrankung.

Als Fachfrau übt Isabella Heuser leichte Kritik an der Ausstellung: „Für den nicht Fachkundigen könnte es so erscheinen, als sei das alles eins: Melancholie, Traurigkeit, Depression.“ Doch kaum etwas steht der Kreativität so sehr im Weg wie eine Depression. Sie unterscheidet sich sehr vom „Vergnügen, traurig zu sein“, das der Dichter Victor Hugo dem Melancholiker attestierte. Aber eine leicht pessimistische Weltsicht muss der Schaffenskraft keinen Abbruch tun: „Wenn wir Deutschen wirklich zur Schwermut neigen, so könnten wir ja fast als lebende Beweise dafür herhalten, dass eine solche Stimmungslage großen Leistungen in Kunst und Wissenschaft nicht entgegen steht“, meint Heuser. Wenn das kein Grund zu ein wenig mehr Optimismus ist …

www.depressionsbarometer.de

Ausstellung „Melancholie – Genie und Wahnsinn in der Kunst“, noch bis zum 7. Mai in der Neuen Nationalgalerie

Adelheid Müller-Lissner

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