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Die Kongressabgeordnete Gabby Giffords wurde bei einem Attentat im Januar schwer verletzt.

© dpa

Der Fall Gabby Giffords: Die USA blicken nach Florida

Wenn die "Endeavour" ins All startet, schaut Amerika auf den Zuschauerrang. Wird die im Januar niedergeschossene Kongressabgeordnete Gabby Giffords ihrem Mann im Space Shuttle zuwinken?

Sie ist auf merkwürdige Weise präsent und abwesend zugleich. Seit Monaten zeigen die Fernsehsender immer wieder Bilder einer energiegeladenen jungen Frau mit ansteckendem Lächeln und blonden Locken. Es sind stets die selben Aufnahmen und unverkennbar keine Live-Szenen.

Nun füllen sie erneut die Bildschirme, jedenfalls in den USA. Amerikaner blicken nach Florida, wo die Raumfähre „Endeavour“ ins All starten soll. Wegen technischer Probleme war der Start verschoben worden. Es ist die vorletzte Mission eines Space Shuttle. Das Ende einer Epoche kündigt sich an. Aber das ist nicht der Grund des Interesses. Sie wollen wissen, ob Mark Kelly, wie geplant, als Kommandeur mitfliegt und ob sie Live-Bilder seiner Ehefrau Gabrielle Giffords sehen werden: wie sie ihrem Mann zum Abschied zuwinkt? Seit die Kongressabgeordnete aus Arizona im Januar Opfer einer Massenschießerei wurde, kennt ganz Amerika ihren Kosenamen Gabby. Und die Bilder aus dem Archiv.

Immerhin gibt es diese Fotos von früher, die einen lebenslustigen Menschen mit wechselnden Frisuren aus verschiedenen Lebensjahren zeigen. Denn Giffords politische Biografie hat mittlerweile ein bedenkliches Stadium zwischen Realität und Scheinwelt erreicht. Ihr Büro versendet einen stetigen Fluss von Pressemitteilungen, die auf den ersten Blick den Eindruck einer hoch aktiven Abgeordneten erwecken. Doch gesehen hat man sie bei keinem der Anlässe. Ende Februar war eine Einladung zur Förderung der Solarenergie mit Giffords als Gastgeberin darunter. Kurz vor Ostern kam die Bitte, Giffords Gesetzesentwurf zum verschärften Schutz der Grenze mit Mexiko zu unterstützen. In ihrem Heimatstaat Arizona hat sich eine Initiative gebildet, die möchte, dass sie bei der Wahl 2012 für den Senat kandidiert, die kleinere und feinere Länderkammer im Kongress. „Sie ist jetzt unschlagbar, egal, für welches Amt sie antritt“, behauptet ein Wahlkampfexperte.

Seit Monaten ist sie nicht mehr öffentlich aufgetreten. Am 8. Januar schoss ein psychisch Kranker sie und weitere 18 Menschen nieder, als sie sich mit Anhängern zu einer Bürgersprechstunde vor einem Supermarkt in Tucson traf. Sechs davon starben. Zwölf der 13 Verletzten haben sich fast alle vollständig erholt. Nur Giffords nicht. Sie erlitt einen Kopfschuss und war dem Tod nahe. Eine Kugel durchschlug ihre linke Gehirnhälfte. Einige Tage lag sie im künstlichen Koma auf der Intensivstation. Dann erklärte der Arzt Peter Rhee, der sie operiert hatte, sie habe „101 Prozent Überlebenschance“.

Giffords Mann Mark Kelly fliegt mit der "Endeavour" ins All.
Giffords Mann Mark Kelly fliegt mit der "Endeavour" ins All.

© Reuters

Seither wird Amerika mit guten Nachrichten über die Genesung gefüttert, anfangs nahezu täglich. Den Auftakt machte der Präsident, als er am 13. Januar bei der Trauerfeier in Tucson sprach und, abweichend vom Manuskript, erzählte, er komme gerade von ihrem Krankenbett. „Sie spürt, dass wir für sie da sind.“ Kurz nachdem er das Zimmer verlassen hatte, habe Gabby erstmals wieder die Augen geöffnet. Die 14.000 Teilnehmer der Feier sprangen von ihren Sitzen auf und jubelten, als hätten sie einer Wunderheilung beigewohnt. Vor vielen Fernsehern im ganzen Land flossen Tränen.

Jedes neue Genesungszeichen war den TV-Sendern eine „Breaking News“ wert: als Gabby erstmals wieder die Hand ihres Mannes Mark drückte; als sie auf Ansprache mit einer Körperbewegung reagierte, die man als Antwort deuten konnte; wie sie lächelte, nachdem man ihr eine komische Szene aus dem Kongress geschildert hatte; wie sie ihre Hand von sich aus hob und Marks Wange berührte; als sie erstmals wieder ein Wort sprach: „Toast“, ein Wunsch fürs Frühstück; und als sie erstmals aufstehen und ein paar Schritte gehen konnte. Die Wortwahl der Ärzte bei den Pressekonferenzen bestärkte die Medien in einer überaus optimistischen Darstellung der Genesung. „Sprunghaft besser“ gehe es ihr, „fantastisch“ seien die Fortschritte, sagten die Spezialisten für Gehirntrauma in Tucson. Als Giffords am 21. Januar nach Houston, Texas, verlegt wurde, in die Nähe ihres Mannes, der sich im Raumfahrtzentrum auf die Weltraummission vorbereitet, lobten die Neurologen dort, sie mache einen „spektakulären“ Eindruck. Kein US-Medium wagte in den ersten Wochen, diese euphorischen Mitteilungen nüchtern zu betrachten und im Umkehrschluss zwischen den Zeilen herauszulesen, was Giffords alles NICHT kann – geschweige denn, die Ärzte danach zu fragen.

Doch je näher der Shuttle-Start rückte, desto auffälliger bemühten sich Ehemann Mark Kelly, Parteifreunde und Ärzte darum, die Erwartungen zu dämpfen. Dong Kim, ein Neurologe in Houston, hatte nach Giffords Ankunft „einen konstanten und wunderbaren Fortschritt“ bejubelt; sie beginne zu laufen und sich mitzuteilen. Nun warnt er im Magazin „Newsweek“: Er begreife, dass medizinische Laien, die den Ärzten zuhören, erwarten, dass Giffords bald auftauche und so aussehe wie früher. Experten jedoch verstünden unter einer guten Genesung etwas ganz anderes. „Wird jemand, der eine schwere Gehirnverletzung erlitten hat, je wieder so sein wie zuvor? Die Antwort ist Nein.“

Erst vor wenigen Tagen ließ Kelly die Öffentlichkeit wissen: Die Ärzte haben die Reise seiner Frau nach Florida genehmigt. Sie wurde in einem Privatflugzeug mit Spezialhelm transportiert, der ihren Kopf schützt. Doch zuvor hatte er bereits gewarnt, man werde ihre Privatsphäre durch Mauern schützen und die Medien von ihr fernhalten. „Ich weiß nicht, wann sie wieder öffentlich auftreten wird. Ich glaube, das dauert noch Monate, nicht Wochen.“

Manche Parteifreunde und die Mitarbeiter im Wahlkampfbüro lassen durchblicken, ein Zweck der vielen guten Nachrichten sei gewesen, erst gar keine Zweifel an Giffords politischer Zukunft aufkommen zu lassen. Eine befreundete Abgeordnete, Shelley Berkley, sagte, Giffords „leitet den Wahlkampf vom Krankenbett“. Nun aber warnt Michael McNulty, ein prominenter Demokrat in Arizona, vor „Wunschdenken“ und meldet vorsichtige Zweifel an, ob Giffords bei der Wahl 2012 antreten könne. „Dann muss sie sich demnächst vor Kameras stellen. Ich weiß nicht, wann sie dazu fähig sein wird.“ Aus den Schilderungen ihrer Sprachtherapeutin Megan Morrow lässt sich schließen: Giffords müht sich, das Sprechen neu zu erlernen. Wie soll ein Wahlkampf ohne die Kunst der Rede gelingen?

Wunder dauern etwas länger. Das gilt auch für andere Fragen mach dem Massaker in Tucson. Reicht dieser Schock über ein Opfer aus den Reihen der Abgeordneten, um die laxen Waffengesetze zu ändern? Mehr als 30.000 Menschen sterben jedes Jahr durch Schusswaffen. Über 55 Prozent sind Selbstmorde. Zwischen 12.000 und 12.500 werden Opfer von Mord und Totschlag durch Kugeln. Allein in den 108 Tagen seit dem Anschlag auf Giffords Bürgersprechstunde sind also schätzungsweise 3600 bis 3700 Amerikaner durch Verbrechen mit Schusswaffen umgekommen.

Der für den Tatort in Tucson zuständige Sheriff Dupnik hatte zwei mögliche Ursachen angeprangert: den Hass in der politischen Rhetorik beider Lager und die Leichtigkeit, mit der selbst instabile Menschen in den USA Waffen erwerben können. Als mehr über den Schützen Jared Loughner bekannt wurde, rückte die erste Erklärung in den Hintergrund. Er interessiert sich nicht für Politik, hat keine Verbindung zu Parteien, war offenkundig nicht beeinflusst durch Wahlkampfparolen.

Das Weiße Haus ließ verlauten, der Präsident werde das Waffenrecht zum Thema machen, aber erst später. Bei der Trauerfeier in Tucson gehe es um die Opfer, sie sei nicht der richtige Ort für Schuldzuweisungen und politische Konsequenzen. Barack Obama hat diese Rede bis heute nicht gehalten. Er begnügte sich mit einem Namensartikel im „Arizona Daily Star“ Mitte März, aus dem Befürworter und Gegner des freien Waffentragens gleichermaßen ihre Argumente herauslesen konnten: Er befürworte das Recht auf Waffenbesitz; seine Regierung habe die Ausführungsvorgaben nicht eingeschränkt. Man schulde es jedoch den Opfern von Tucson, mehr für den Schutz der Bürger tun. Der erste Schritt sei, die bestehenden Vorschriftn gegen illegale Waffenkäufe durchzusetzen.

Wer nach Erklärungen für seine Vorsicht sucht, kann Umfragen studieren. Oder einen Waffenladen in den USA besuchen. 70 Prozent lehnen eine prinzipielle Beschränkung des Waffentragens ab. Nur relativ harmlose Auflagen finden hohe Zustimmung, zum Beispiel, dass man beim Kauf einen Führerschein vorzeigen und eine Kontrollabfrage wegen Vorstrafen oder Geisteskrankheit akzeptieren müsse. In der Praxis halten nicht einmal die autorisierten Händler solche Vorschriften ein. Und ein Drittel der Waffenkäufe wird ohnehin illegal von privat zu privat abgewickelt.

„Atlantic Guns“ ist ein kleiner Laden in Silver Spring, einem Vorort von Washington. Die Schaufenster sind vergittert. Eines davon schmücken Werbeplakate der österreichischen Firma Glock, mit deren Modell 19 Loughner in Tucson tötete. Schwere Poller auf dem Bürgersteig vor dem Eingang verhindern, dass sich jemand mit einem Rammfahrzeug Zugang verschafft.

Drinnen fällt der Blick auf die großen Namen der Wildwestromane: Browning, Colt’s, Remington, Smith & Wesson, Springfield. Die Regalreihen und Vitrinen sind nach drei Zielgruppen geordnet: Sportschützen, Jäger, Selbstverteidigung. Ganz hinten links hängen Schnellfeuergewehre zu Preisen zwischen 599 und 1595 Dollar, darunter ein M-4, die zivile Variante des Armeegewehrs M-16. Pistolen des Kalibers 9 mm wie Loughners Tatwaffe kosten 400 bis 600 Dollar.

Hat sich nach Tucson etwas geändert? Der Mann hinter der Ladentheke, ein weißhaariger Mittfünfziger mit rötlicher Hautfarbe namens Dan, scheint erstaunt über die Frage. „Nein, wieso?“ Er glaube auch nicht, dass schärfere Regulierungen etwas bringen. „Die meisten Käufer sind Stammkunden, die kenne ich. Wenn mal ein Neuer kommt, lasse ich mir den Ausweis zeigen und rufe beim FBI wegen Background-Check an. Das dauert keine fünf Minuten.“

Natürlich hat Dan es gleich vermutet: Wer solche Fragen stellt, ist kein Amerikaner. An Ausländer dürfe er nicht verkaufen. Aber zwei Dinge will er schon noch loswerden. Erstens, Waffen aus Deutschland und Österreich seien in Amerika sehr beliebt, wegen der Zuverlässigkeit: Glock, Sauer, Walther laufen oft besser als die US-Produkte. Zweitens zeige die Erfahrung den erzieherischen Wert von Waffen. „Eine bewaffnete Gesellschaft ist eine höfliche Gesellschaft. Nur Unbewaffnete sind leichte Opfer. Das lädt zu Gewalt ein.“

Nun muss er sich aber um die Kunden kümmern. Sam, ein Schwarzer Ende Zwanzig, lässt ein vollautomatisches Gewehr durch die Hände gleiten, drückt den Kolben prüfend gegen die Schulter und korrigiert die Haltung. Wofür er es braucht? In der Freizeit treffe er sich mit Kumpels in der Schießanlage, sagt er mit einem Grinsen, das zu vielerlei Interpretation einlädt. Er ist in Anacostia aufgewachsen, einem Viertel im Südosten der Hauptstadt, die jahrelang die höchste Mordrate der USA hatte. Schon als Kind gehörten Waffen zum Alltag, mit sieben lernte das Schießen. Jetzt verdiene er sein Geld als Wachmann., sagt er. „Wenn alle eine Waffe trügen, dann wären Massenschießereien wie in Tucson rasch beendet – weil jemand den Schützen nach den ersten Schüssen stoppen würde.“

Das ist ein gängiges Argument der National Rifle Association (NRA), der mächtigsten Lobbygruppe. Ihre Vertreter behauptet auch, wenn Passagiere ihre Waffen mit ins Flugzeug nehmen dürften, hätte es einen Anschlag wie an 9/11 nie gegeben. Tatsächlich gab es 18 Massenschießereien in den USA seit Mai 2007; bei keiner hat ein legaler Waffenbesitzer eingegriffen und den Schützen gestoppt, obwohl die 300 Millionen Einwohner der USA rund 200 Millionen Schusswaffen besitzen. Sie konzentrieren sich freilich auf 40 Prozent der Haushalte. Und eine Schießerei in einem Jet auf 10.000 Meter Flughöhe würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Absturz führen. Auf Sam machen solche Hinweise keinen Eindruck.

Im Gang für Jagdwaffen sucht Larry nach einem Zielfernrohr. Er ist Demokrat, arbeitet in der medizinischen Forschung, stammt aber vom Land und hat sich die Liebe zur Jagd bewahrt. Auch ihm hat man schon als Kind beigebracht, mit Gewehren umzugehen. „Niemals auf Menschen zielen!“, imitiert er, wie Erwachsene mit Kindern sprechen. „Immer prüfen, dass die Waffe gesichert und dass keine Patrone mehr im Lauf ist, wenn man das Magazin entfernt!“ Unfälle mit Schusswaffen oder gar Morde gebe es dort, wo er herstamme, so gut wie nie.

Die typischen Fronten im Streit um das Waffenrecht in den USA verlaufen nicht zwischen Rechten und Linken, sondern zwischen Stadt und Land. In Großstädten wie New York, Washington, Chicago sind neben den Demokraten auch Republikaner für mehr Kontrolle; anders lasse sich die Kriminalität nicht bekämpfen. In ländlichen Regionen sind neben den Konservativen auch die Progressiven für Waffenfreiheit. Schließlich wisse doch jeder, wie man verantwortungsvoll mit Gewehren und Pistolen umgehe.

Die Abgeordnete Giffords ist übrigens stets für die Freiheit des Waffentragens eingetreten. So denkt man eben in Arizona.

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