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Panorama: Der Pfleger brachte den Tod

Die alten Menschen vertrauten ihm, die Klinik auch. Zehn Patienten starben. Die Polizei sagt: Er wollte noch mehr umbringen

Die Sonne knallt erbarmungslos auf die blumengeschmückten Gräber. Gleich neben dem Haupteingang steht ein großer grauer Stein mit blank polierter goldener Inschrift: „Gott sprach sein großes Amen“ steht darauf. Für mindestens neun Frauen und Männer, die auf dem Sonthofener Friedhof liegen, trifft das nicht zu. Sie wurden von Stephan L., einem 25-jährigen Krankenpfleger, getötet. Innerhalb von 19 Monaten gab der stille Mann sechs Patientinnen im Alter von 70 bis 89 Jahren und vier Männern (60 bis 88) im Krankenhaus eine Todesspritze – angeblich aus Mitleid. „Dieser Mensch hat Gott gespielt“, sagt die Friedhofsgängerin Katharina Zeller (46) fassungslos.

Am Tag, nachdem der Mann verhaftet wurde und sich die Schreckensnachricht in dem Luftkurort am Fuße der Allgäuer Hochalpen verbreitet hat, herrscht in der Kreisstadt Entsetzen. „Das ist für uns alle ein großer Schock“, sagt Karl Heinz Walter (60), der Sicherheitsreferent der Stadt. Seine Frau arbeitet als Verpflegungsassistentin in der Klinik.

Entsetzen herrscht nicht nur in Sonthofen. Was hier vorgefallen ist, ist der Alptraum jeder Familie. Die Taten des Pflegers könnten für das Gesundheitswesen Folgen haben. Die Deutsche Hospiz Stiftung hat nach Bekanntwerden der Tötungsserie einen radikalen Systemwechsel im Gesundheitswesen gefordert und warnte vor dem „Tatort Altenpflege“. Der geschäftsführende Vorstand der Patientenschutzorganisation, Byrsch, sagte am Wochenende, Morde durch Pflegepersonal kämen immer wieder vor. „Nirgendwo ist es so unauffällig zu töten wie bei Schwerstpflegebedürftigen“, sagte er. Das Personal sei häufig „völlig überfordert“. Die Stiftung nennt diese immer wieder an Patienten begangenen Delikte schlicht „Mord“.

Stephan L. arbeitete seit Januar 2003 auf der Station I, Inneres, im Neubau des Klinikums. Er galt als hilfsbereit und nett, gleichzeitig als introvertierter Einzelgänger. Unter seinen Kollegen hatte der 25-Jährige den Ruf, nicht besonders teamfähig zu sein. Stephan L. kam aus Baden- Württemberg. „Er war intelligent und ehrgeizig. Er wollte auf jeden Fall weitermachen, mindestens Stationsleiter werden oder vielleicht sogar Arzt“, berichtet seine Mitschülerin Christine.

Nach dem Examen bekam Stephan L. im Kemptener Krankenhaus seine erste Anstellung. Danach wechselte er in die Sonthofener Klinik: „Er hatte gute Zeugnisse. Wir können nicht in die Seele eines Bewerbers schauen“, sagt Klinik-Geschäftsführer Dr. Rüdiger Haug. Der Pfleger und seine Freundin zogen in das nur fünf Kilometer entfernte Dorf Gunzesried. Sie mieteten sich auf einem Bauernhof mit herrlichem Bergblick ein, lebten umgeben von Kühen auf satten Wiesen. Nur drei Monate, nachdem er seinen neuen Job angetreten hatte, gab Stephan L. einer 89-jährigen Patientin die erste Todesspritze.

Dazu entwendete er drei Substanzen aus dem unverschlossenen Medikamentenschrank auf der Station: Midazolam, ein Mittel, das den Patienten in einen kurzen Rausch oder Schlaf versetzt, sowie Etomidat, das normalerweise zur Einleitung einer Narkose verabreicht wird. Mit einem dieser Mittel betäubte er die 89-jährige Frau in ihrem Bett, anschließend spritzte er ihr das todbringende Lysthenon. Die Substanz führt zu einer völligen Erschlaffung der Muskeln, auch die Atemmuskulatur setzt aus. Wird der Patient nicht sofort künstlich beatmet, stirbt er. Diesen Todescocktail aus Medikamenten, die alle nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, bekamen alle seine Opfer. Die 89-jährige Frau starb am 12. März 2003 in ihrem Klinikbett, sein letztes Opfer, eine 73-jährige Frau, bekam am 10. Juli die Todesspritze.

Unter den Getöteten war auch eine krebskranke Frau, die Stephan L. angefleht haben soll, ihr beim Sterben zu helfen. Das gab der „Todesengel“ zumindest bei seiner Vernehmung vor der Polizei zu Protokoll. Auf der Station fiel offenbar niemandem auf, dass so viele Patienten starben, kurz nachdem Stephan L. bei ihnen gewesen war. „Es ist nichts Ungewöhnliches, dass auf so einer Station Menschen sterben“, sagt der Klinik-Chef. Der Verlust der Medikamente fiel erst im Juli auf: Ein Kollege meldete den Schwund dem Oberarzt, der kurz darauf die Polizei einschaltete. Der Verdacht fiel schnell auf Stephan L.. Als seine Wohnung durchsucht wurde, fand die Kripo die zerbrochenen Ampullen. Am Freitag erging Haftbefehl gegen den 25-Jährigen. Als Motiv gab Stephan L. an, dass er nicht mit ansehen konnte, wie die Kranken litten und „dahinsiechten“. Er habe sie von ihrem Leiden erlösen wollen. Doch für die Polizei liegt der Verdacht nahe, dass die Frauen und Männer gar nicht so krank waren, wie der Pfleger annahm. Verwandte hatten sich gewundert, dass ihre Angehörigen so plötzlich gestorben waren. In den 19 Monaten, in denen der stille Pfleger Herr über Leben und Tod spielte, verschwanden 15 Milligramm Lysthenon.

Diese Menge, sagt Kripo-Chef Albert Müller, reicht aus, um 17 oder mehr Menschen ins Jenseits zu befördern: „Wir gehen davon aus, dass es mit dem Töten weitergegangen wäre.“

Nina Job[München]

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