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Panorama: Der Richter und sein Rechner

In China beurteilt ein Computerprogramm Straftaten – und fällt vollautomatisch Gerichtsurteile

Auf dem Bildschirm leuchtet ein roter Balken, darunter eine Liste mit Straftaten. „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“, „Schädigung der sozialistischen Marktwirtschaft“, „Pflichtverletzung im Amt“. Qin Ye, Chef der Softwarefirma Boya-Yingjie, bewegt den Cursor über den Monitor. „Nehmen wir an, ein 20-jähriger Wanderarbeiter hat eine Frau vergewaltigt“, sagt er. Dann tippt er die Angaben in die Tastatur, fünf Minuten später erscheint auf dem Bildschirm das Ergebnis: sechs Jahre und ein Monat Gefängnis. „Je nach den Umständen können die Richter ein halbes Jahr mehr oder weniger geben“, erklärt Qin.

Das Computerprogramm, das Qin in einem klimatisierten Konferenzzimmer im Pekinger Haidian-Bezirk vorführt, trägt den Namen „Strafmessprogramm für die 100 häufigsten Straftaten“. Seit Anfang des Jahres entscheidet es im Bezirksgericht Zichuan in der Provinz Shandong über die Strafen, mit denen Kriminelle bestraft werden. Mord, Vergewaltigung, Diebstahl – mehr als 1000 Fälle hat das Programm bereits abgeurteilt. Zuvor wurde es drei Jahre getestet. „Es gab keine einzige Beschwerde“, schwärmt Qin, dessen Firma die Software entwickelt hat und nun landesweit vertreiben will. Mehrere Gerichte in Shandong und der nördlichen Industriestadt Dalian hätten bereits Interesse angemeldet.

„Unser Programm hilft dabei, landesweit ein gleiches und faires Strafmaß durchzusetzen“, erklärt Qin. Der Rechtsprofessor der renommierten Pekinger Universität und ehemalige Staatsanwalt hat in seiner Arbeit selbst erlebt, wie willkürlich Chinas Gerichte oft Urteile fällen. Auf „Anweisung von Vorgesetzten“ habe er als Staatsanwalt Fälle an Bezirksgerichte weiterleiten müssen, was automatisch zu einem niedrigeren Strafmaß führe. „Mit unserem Programm kämpfen wir gegen die Korruption“, sagt Qin.

Dann zeigt er die Arbeitsweise des Programms an einem weiteren Beispiel: Ein Dieb hat historische Kulturgegenstände aus einem Grab geklaut. In einer Maske gibt Qin die Details an: „Drei gestohlene Objekte der Schutzklasse 1, fünf Objekte der Klasse 2“. Auf dem Bildschirm erscheint das vorläufige Strafmaß: rund 40 Jahre Gefängnis. „In solchen Dingen sind unsere Gesetze streng“, erklärt Qin etwas verlegen. Dann gibt er die Details des Falls ein: Wie viele Diebstähle? War der Mann Anführer oder Mitläufer? Sind soziale Faktoren zu berücksichtigen? Weil der Dieb erst 17 Jahre alt und „geistig mittelschwer verstört“ ist, zeigt sich der Computer gnädig: nur noch 15 Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe.

Mord, Diebstahl, Raub, Korruption – bei fast allen Delikten könne der Computer das korrekte Strafmaß bestimmen, sagt Qin. Ausgenommen sind politische Verbrechen. „Staatsverrat, Gefährdung der staatlichen Sicherheit oder Separatismus kommen im Programm nicht vor“, sagt Qin. Solche Delikte seien schließlich sehr selten. Auch Todesurteile fällt der Computer nicht. „Für solche Delikte braucht man keine Software, da liegt das Urteil ja auf der Hand“, behauptet Qin. Dass der Computer keine Todesurteile ausspuckt, könnte aber auch politische Gründe haben: Weil in keinem Land der Erde so viele Menschen hingerichtet werden wie in China, steht das Land international in der Kritik. Mindestens 1770 Todesurteile ergingen im vergangenen Jahr.

Die höchste Strafe, die der Computer verhängt, ist lebenslänglich – bei Korruption, Wirtschaftskriminalität oder Erpressung. „Der Computer braucht dafür nur ein paar Minuten“, schwärmt Qin.

Harald Maass[Peking]

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