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Wie steht's um uns Deutsche in Europa? Helmut Schümann umrundet unser Land mit dem Rucksack auf dem Rücken.

© privat

Deutschland drumherum (7): Geschichte und Geschichten an der polnisch-tschechischen Grenze

Von Zgorzelec aus macht sich Helmut Schümann auf den Weg nach Tschechien. Rund um die Grenze wird er immer wieder überrascht: ob von historischen Gedenksteinen oder einem älteren Herrn, der meint, verborgene Wahrheiten über die Stadt Frydlant zu kennen.

Der Weg raus aus Zgorzelec rüber nach Tschechien Verläuft entlang der Neiße. Das ist ein sehr idyllischer Weg, auch wenn an diesem sehr frühen Morgen der Nebel über dem Wasser den Rückblick auf Görlitz/Zgorzelec verschleierte. Ansonsten trübt nichts, die Neiße kommt einem träge entgegen, kein Mensch ist unterwegs, kein Auto irgendwo in der Ferne zu hören. Irgendwann wird der Weg schlammig, aber das ist logisch, weil er durch die Baustelle führt, an der die neue Zeit mit Unterstützung der EU, wie auf dem Bauschild zu lesen ist, gerade dabei ist, den Weg zu befestigen. Nach der Baustelle kommt Waldweg, lauschig, Vögel zwitschern.

Ich laufe an einem Birkenwäldchen vorbei, und als der Weg eine scharfe Abbiegung vorschreibt, ist die Idylle plötzlich vorbei. Da steht ein Gedenkstein. Und einige Hinweisschilder erläutern vielsprachig, was es mit diesem Birkenwäldchen mal auf sich hatte: „StaLag VIIIa: Ein Ort, der durch das Blut und das Märtyrertum der Kriegsgefangenen der Antihitlerkoalition während des Zweiten Weltkrieges geheiligt wurde“. Im September 1944 wurde die höchste Gefangenenzahl dieses Lagers verzeichnet, 47328. Es haben grausame Zustände geherrscht, umso erstaunlicher, dass unter diesen Bedingungen der französische Komponist Olivier Messiaen hier sein „Quartett auf das Ende der Zeit“ komponierte und zur Uraufführung brachte. Am Ende des Wäldchens liegt der Friedhof des Lagers, ein kleiner Parkplatz davor, auf dem zwei LKW parken, in denen die Fahrer eine Ruhepause eingelegt haben.

Die Vergangenheit ist allgegenwärtig hier im grenznahen Bereich. Sie ist es auch am Abend in Frydlant in Tschechien. Es war ein langer Weg dorthin, der gefühlt noch länger wurde, weil meine naive Vorstellung, vom polnischen Bogatynia bis zur Grenze sei es nur ein Katzensprung, und dahinter stehen gewiss Busse, die mich nach Frydlant bringen, doch lächerlich naiv war. Das muss schon eine gewaltige Katze sein, die vier Kilometer weit springt. Und Busse? Wieso Busse? Das ist natürlich auch eine grüne Grenze, in der es außer der verlassenen Baracke der ehemaligen Grenzstation nichts gibt. Ein Schild das aus Polen verabschiedet, ein Schild, dass zeigt, dass man sich jetzt in Tschechien befindet. Sonst nichts. Nur Straße nach Frydlant, 8 Kilometer entfernt.

Die Vergangenheit. Die kam am Abend in Person eines älteren Herrn auf mich zu, der mich ansprach, ob ich Brite sei. Keine Ahnung warum. Ich hatte zuvor mit Tomas und Anetta, einem polnischen Paar aus Kurzurlaub zusammen gesessen. Tomas hatte mir erklärt, dass er in Export mache, Käse nach Deutschland verkaufe, durch Freunde, die in Speyer arbeiteten, zum Weinkenner avanciert sei, er kaute auch sehr kenntnisreich auf einem Cabernet Sauvignon herum, und des weiteren sagte, dass der Euro, wenn er denn auch in Polen eingeführt würde, eine Katastrophe für Polen sei, aber nicht sagte, warum. Wir hatten uns in Deutsch unterhalten. Keine Ahnung also, warum der ältere Mann, mich für einen Engländer hielt.

Dann sprach er auf Deutsch weiter, makellosem Deutsch, akzentfrei. „Wo Sie hier sind, das heißt eigentlich Friedland und ist auch eigentlich Deutschland. Ich kann Ihnen die ganze, die wahre Geschichte dieser Gegend erzählen, mehr als in den Geschichtsbüchern steht.“ Es war spät geworden, im Café nebenan wurden schon Tische und Stühle rein geräumt, ich hatte fast 40 Kilometer in den Beinen und keine Lust mehr auf das Lamento von Vertriebenen.  „Ja", sagte ich, „morgen früh, um halb neun, hier auf dem Platz vor dem Rathaus.“

Am Morgen, es war Feiertag in Tschechien, 8. Mai, startete auf dem Rathausplatz ein Volkslauf. Um neun Uhr, kein Mann zu sehen. Ich wartete bis zehn, kein Mann zu sehen. Ich ging zum Bahnhof, wohl wissend, dass ich die wahre Geschichte, die, die über die Geschichtsbücher hinaus geht, wohl nie erfahren werde.

Nach Decin fährt ein Bummelzug, in dem mich keine Vergangenheit einholte, sondern in der man komplett aus der Zeit fällt. Er zuckelt durch Tschechien, durch Narodni park Ceske Svycarsko, also die böhmische Schweiz, die ist wunderschön, und der Zug hält an jedem Weiler. Bahnstationen, an denen Schranken und Weichen noch mit der Hand hochgekurbelt und verstellt werden, an denen der  Bahnhofsvorstand noch die Kelle hebt und wenn der Ort Hodmezovasarhelykutasipuszta geheißen hätte, gewiss Liselotte Pulver als Piroschka aus dem Stellwärterhäuschen gewunken hätte.

Mir saß Ivana Sacukova gegenüber. Ich lasse mir die Namen inzwischen von den Bekanntschaften ins Notizbuch schreiben, um nicht wieder V und W zu verwechseln. Ivanas Geschichte ist weniger romantisch. In Nürnberg hat sie studiert, Volkswirtschaftslehre, hat dann in Mecklenburg Vorpommern als Küchenhilfe gearbeitet, „war alles eine schöne Zeit“, sagt sie. Dann ist sie zurück nach Tschechien, hat geheiratet, hat mit ihrem Mann ihre Heimatstadt verlassen, eine Tochter bekommen, die Ehe ist zerbrochen, sie ist mit Tochter zurück nach Jablonec, dort gab es keine Arbeit mehr, und nun ist sie arbeitslos. Eine profane, alltägliche Geschichte, keine tschechische, eine, die länderübergreifend geschehen kann. „Deutschland? Deutschland gefällt mir immer noch“, sagt Ivana. Und die europäische Kritik an Deutschland? „Das ist Politik“, sagt Ivana Sacukova, „das hat nichts mit den Menschen zu tun.“ Dann steigt sie aus in Benesov nad Ploucnici, und das hört sich schon fast an wie Hodmezovasarhelykutasipuszta.

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