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Panorama: Die Camorra mordet auch ohne Bosse

Die Spitzen der beiden rivalisierenden Clans sind verhaftet, aber noch immer werden Menschen getötet

Das Jahr ist erst zehn Wochen alt, doch schon zählt man in Neapel 27 Tote – Ermordete, genauer gesagt, Opfer von Racheaktionen, erschossen von Killern, nicht wenige auf offener Straße, am helllichten Tag. Wie immer will unter den Umstehenden oder den Anwohnern niemand etwas gesehen und gehört haben.

Derzeit rätselt die Polizei, warum Sebastiano sterben musste. Ein bewaffnetes Kommando hatte ihn am Donnerstag auf einer Straße am Stadtrand umgebracht. Streit um ein Moped? Es wäre nicht das erste Mal, dass in Neapel deswegen einer ermordet worden wäre. Sühne für einen Raub? Sebastiano war nicht unbekannt, war vorbestraft und hatte eine Pistole bei sich. Oder wieder einmal eine Abrechnung zwischen zwei Camorra-Familien? Sebastiano – im Mai wäre er 15 Jahre alt geworden – war Sohn eines Clanchefs aus der Umgebung von Neapel.

Ein paar Februarwochen lang war es ruhig in Neapel. Der Januar hatte mit einem Blutbad geendet – vier Tote an einem einzigen Tag, alles junge Erwachsene. Danach scheinen sich die beiden größten Feinde zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand getroffen zu haben. Das schließt die Polizei aus den Abhörprotokollen etlicher Handygespräche. Der seit drei Jahren untergetauchte Chef des Clans Di Lauro, Ciruzzo, „der Millionär“, und der nach Spanien geflüchtete Führer des Rebellenflügels, Raffaele Amato, sprachen offenbar über eine gewaltfreie Aufteilung des Rauschgiftmarkts. Damit wäre jener Bandenkrieg beigelegt worden, der 2004 mehr als hundert Menschen – auch Unbeteiligte – das Leben kostete. Seit ein paar Tagen weiß Neapel, dass die Verhandlungen gescheitert sind: Am Sonntag vor einer Woche erschossen zwei Killer auf einem Marktplatz in der Altstadt, mitten unter den Kirchgängern, einen 35-Jährigen; er wurde einem Flügel des Di-Lauro-Clans zugerechnet.

Die Polizei hatte mit solchen Überfällen nicht mehr gerechnet, denn sie war in der Zwischenzeit nicht untätig geblieben. Sie hatte den aktuellen Clanchef, Cosimo Di Lauro, den Sohn des „Millionärs“, verhaftet. Und kurz darauf war dessen Gegenspieler Raffaele Amato den Behörden in einem Spielcasino in Barcelona ins Netz gegangen. Der leitende Staatsanwalt Giovanni Corona sagt, man müsse bei solchen Bandenkriegen schon darauf achten, nicht nur eine Partei zu „enthaupten“, sonst nütze man nur den Rivalen.

Um Cosimo Di Lauro aus seiner Plattenbauwohnung holen zu können, musste die Polizei etliche Hundertschaften an Verstärkung anfordern: Die Anwohner, Frauen vor allem, protestierten gewaltsam gegen die Polizisten. Zur Erklärung sagen die Ermittler vor Ort und auch Innenminister Giuseppe Pisanu in Rom, der Clan Di Lauro gebe den Menschen in seinem Viertel Arbeit und Brot. Posten als Zuträger, Chemiker, Verarbeiter, Verpacker, Groß- und Zwischen- Händler, Kleindealer, Transporteure, Wachposten – der Rauschgifthandel biete Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, wie sie in der nördlichen Peripherie Neapels sonst kaum vorhanden seien.

Die Camorra bezahlt die Anwohner von Drogenumschlagplätzen dafür, dass sie ihre Fensterläden geschlossen halten; sie mietet Waffen in den Kleiderschränken „harmloser“ Bürger ein, mancher, den die Polizei jahrelang sucht, versteckt sich als Untermieter gegen gutes Geld im Zentrum des Geschehens, in normalen Familien – so auch Cosimo Di Lauro.

Nach der Verhaftung der rivalisierenden Clan-Chefs hat die Polizei bei Razzien 120 weitere Personen festgenommen. „Ob Bosse oder Mitläufer, wir erwischen sie alle“, sagt Innenminister Pisanu. Fahnder vor Ort indes verweisen darauf, dass es neben dem geschwächten Di- Lauro-Clan noch 30 weitere Familien gibt, die in Revierkämpfe verwickelt sind. 14 Orte im Stadtgebiet gelten als Brennpunkte. Der Mord am 14-jährigen Sebastiano gehört wohl zu einem dieser „kleineren“ Konflikten. Kurz vor Sebastiano wurde ein 41-Jähriger erschossen. Die Killer waren zweimal gekommen. Beim erstenmal hatten sie ihn nur am Bein verletzt.

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