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Die Geschichte: Die grünen Piraten

Zwölf Mann sind an Bord der „Phyllis Cormack“, es ist 1971, und sie wollen den Atombombentest der USA auf den Aleuten verhindern. Ihre Irrfahrt wird der erste Erfolg von Greenpeace.

Sie haben sich mehrfach ausgemalt, was zu tun wäre, sollten Beamte der US-Küstenwache ihr Boot entern. Zum Beispiel: die Angreifer mit feuchten Wischlappen bewerfen. Oder alle Kleidung ablegen und nackt singen. Jetzt ist es so weit, am 16. Tag der Reise, noch 1050 Kilometer vom Ziel entfernt. Von Westen nähert sich ein Patrouillenboot, aber die Crewmitglieder der „Phyllis Cormack“ handeln nicht, sie diskutieren bloß wieder. Diesmal die Frage: Muss das Poster von Richard Nixon verschwinden? Es hängt unten im Aufenthaltsraum als Zielscheibe an der Wand, zwei Dartpfeile stecken in den Nasenlöchern des Präsidenten. Das könnte die Männer der Küstenwache provozieren, sagen die einen. Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an, sagen die anderen.

Davonfahren können sie nicht. Die „Phyllis Cormack“ schafft selbst bei voller Maschinenleistung nur zehn Knoten, das sind knapp 19 Kilometer pro Stunde. Es ist Donnerstagmittag, der 30. September 1971, unter Deck öffnet der Schiffskoch seine letzte Rumflasche.

Von allen Fehlern, die der Crew bisher unterlaufen sind, könnte dieser der folgenschwerste sein: Die „Phyllis Cormack“ ist in US-amerikanisches Hoheitsgebiet eingedrungen, hat nahe der Insel Akutan keine 100 Meter vor der Küste geankert. Die Aktivisten wissen nicht, welche Strafen jetzt drohen, sie haben vor der Abreise niemanden gefragt. Richard Fineberg, der Politikwissenschaftler an Bord, hat schon vor Tagen darauf gedrängt, wenigstens über Funk einen Anwalt um Rat zu bitten. Der Vorschlag wurde im Plenum diskutiert und mehrheitlich abgelehnt.

Seitdem steht Richard Fineberg in Verdacht, heimlich für die CIA zu arbeiten.

Sie sind zu zwölft auf der „Phyllis Cormack“, und wenn die Aktivisten etwas verbindet, dann ist es die gegenseitige Skepsis. Jim Bohlen, der Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg, misstraut den jungen Journalisten an Bord. Besonders Robert Hunter, dem Hippie-Kolumnisten der „Vancouver Sun“, der von LSD und Gestalttherapie schwärmt. Die Vietnamkriegsgegner trauen den Naturfreunden nicht, der Koch nicht dem Fotografen. John Cormack, der Kapitän und Schiffseigentümer, mag keine Akademiker.

Zwei Jahre lang haben sie ihre Reise von Vancouver aus geplant – seit dem Moment, als die US-Regierung verkündete, einen weiteren unterirdischen Atombombentest auf Amchitka vorzubereiten. Die Aleuteninsel ist unbewohnt, liegt 4000 Kilometer Luftlinie von Vancouver entfernt, und doch regt sich Protest in Kanadas größter Westküstenstadt. Eine Gruppe Quäker sammelt Unterschriften, Jurastudenten, Rotarier und Marxisten schließen sich an. Manche fürchten Erdbeben oder Tsunamis wegen der unterirdischen Druckwelle, andere warnen vor austretender Strahlung oder lehnen Atomwaffen grundsätzlich ab. Der harte Kern der Testgegner hat noch ein weiteres zentrales Argument: Amchitka gilt als wichtiger Lebensraum für Seeotter. Durch die Explosion könnten deren Trommelfelle zerplatzen, heißt es.

In der Gruppe engagieren sich Naturschützer wie Friedensbewegte. Bei einem Treffen verabschiedet sich ein Mitglied mit „Peace“. Ein Zweiter antwortet: „Make it a green peace!“ Dass sie beide Wörter bald zusammenschreiben, hat optische Gründe. Es passt einfach besser auf die Anstecker, die sie für 25 Cent auf Vancouvers Straßen verkaufen.

Fünf Megatonnen Sprengkraft soll die Bombe haben, sie wäre die stärkste, die die USA je unterirdisch gezündet haben, 385-mal stärker als die auf Hiroshima. Greenpeace hofft: Schafft es ihr Boot in die Nähe der Insel, muss die US-Regierung den Test absagen. Zumindest will man Wasserproben nehmen. Es gibt einen Geigerzähler an Bord und die Absprache, dass nach einer möglichen Explosion alle Teilnehmer mit Kinderwunsch unter Deck bleiben.

Der Kapitän ist der Einzige, der die Bombe nicht stoppen will. Er braucht schlicht Geld, um seinen 30 Jahre alten Fischkutter zu reparieren. Die Heilbuttfänge der vergangenen Jahre waren wenig ergiebig, man findet an Bord kaum ein Metallteil, das nicht von Rost befallen wäre, das Deck hat sich mit den Jahren grün verfärbt. „Greenpeace“, wie sich die Gruppe jetzt offiziell nennt, bietet 12 500 US-Dollar für die Fahrt. Die Summe wurde bei einem Benefizkonzert eingenommen.

Der Kapitän ist auch der Einzige, der nicht seekrank wird. Die anderen haben kaum Segelerfahrung, am dritten Tag geben sie es auf, Steuerbord von Backbord unterscheiden zu wollen.

Bald kommt die „Phyllis Cormack“ vom Kurs ab: Robert Hunter hat seinen Kassettenrekorder neben den Kompass gestellt, und immer wenn er das Band von „The Moody Blues“ abspielt, zeigt die Nadel eine falsche Richtung an. Als der Kapitän das merkt, schlägt er Hunter auf den Kopf.

Die Essensvorräte schwinden viel schneller als gedacht. Der Koch möchte, dass zwischen den regulären Mahlzeiten nichts mehr gegessen wird, er kann sich nicht durchsetzen. Im Aufenthaltsraum wird geraucht, Mundharmonika gespielt, vor allem philosophiert. Robert Hunter, der Hippie-Kolumnist, betont die seelische Verwandtschaft des Menschen mit Eidechse und Kaktus.  Fotograf Bob Keziere hat weniger Sinn für spirituelle Themen. „Wir mögen nicht die rationalste Gruppe von Menschen sein, die man sich wünschen kann“, sagt er einmal. „Aber wir sind definitiv die einzige, die sich auf dem Weg nach Amchitka befindet.“

Auf zwei Grundsätze hat sich die Gruppe vor ihrer Abfahrt geeinigt. Es sind Prinzipien, die sämtliche großen Greenpeace-Aktionen der folgenden 40 Jahre auszeichnen werden: Gewaltfreiheit und Zusammenarbeit mit den Medien. Als sie am 15. September 1971 in Vancouver starten, kehren sie nach wenigen Minuten um und legen erneut ab. Das Kamerateam des kanadischen Fernsehens war verspätet im Hafen eingetroffen. Jeden Abend schalten sie das Funkgerät ein, um ihre Mitstreiter auf dem Festland über den Stand der Reise zu informieren. Die geben Neuigkeiten an Zeitungen und Radiosender weiter. Robert Hunter diktiert über Funk seine Kolumne für die „Vancouver Sun“, seine Reisenotizen wird er später auch als Buch veröffentlichen. Hunter hat sich einen Namen für die Gruppe ausgedacht: „Captain Cormack’s Lonely Hearts Club Band“.

Die Beamten der US-Küstenwache, die am 30. September an Bord klettern, finden Chaos vor. In den engen Kojen liegen Muscheln, Krabben, kleine Felsbrocken und Treibholz, im Aufenthaltsraum Papierberge, zwischen Kameras und Notizbüchern steht ein gebastelter Turm aus Zahnstochern. Ein Plakat von Richard Nixon finden sie nicht.

Die Aktivisten werden vorläufig nicht verhaftet. Strafe droht ihnen dennoch: Beim Eintritt in US-Hoheitsgewässer hätten sie dem Zoll melden müssen, welche Waren sie importieren. Jetzt muss jedes Crewmitglied 1000 Dollar Bußgeld zahlen – oder gar die fünffache Summe, sollte das Schiff nicht zum Festland zurückkehren und bei einem Zollbeamten vorsprechen. Gleichzeitig überreicht das Team der Küstenwache einen Bogen Papier. 18 Beamte versichern darauf mit ihrer Unterschrift, dass sie die Ziele von Greenpeace teilen und Glück wünschen. Als der Offizier beim Abschied nicht hinguckt, grüßen seine Untergebenen mit dem Peace-Zeichen.

Am nächsten Tag dreht die „Phyllis Cormack“ nach Osten ab, weg von Amchitka. Sie erreichen den US-amerikanischen Küstenort Sand Point, hier nehmen sie Kontakt zu Anwälten auf, kaufen Vorräte nach. Die Menschen in Sand Point leben vom Krabbenfang. Robert Hunter findet es grausam, wie die Tiere zu Hunderten in Tonnen geschüttet und tagelang auf engstem Raum gefangen gehalten werden. Er schlägt vor, in einer Nachtaktion alle Behälter ins Meer zu kippen und so möglichst vielen Tieren die Freiheit zu schenken. Außerdem will er mit schwarzer Farbe „Die Krabbe ist dein Bruder“ an eine Wand malen. Dazu kommt es nicht. Stattdessen verbringen die Crewmitglieder ihre Abende in der Hafenkneipe, freunden sich mit Fischern an.

Am 5. Oktober, Tag 21 ihrer Reise, diskutieren sie, ob eine Weiterfahrt ohne Neoprenanzüge zu gefährlich ist. Die Wellen sind schließlich meterhoch, wer ins Wasser fällt, könnte erfrieren. Ein Mitstreiter in Vancouver kennt einen Verkäufer von Taucherausrüstung, der Mann will zwölf Anzüge spenden. Ein Schiff bringt sie nach Sand Point, doch die Aktivisten können die Pakete nicht in Empfang nehmen. Bei der Einfuhr werden 400 Dollar Zollgebühr fällig, das Geld haben sie nicht, die Ware wird zurück nach Vancouver geschickt. Mit jedem Tag in Sand Point wächst die Frustration unter den Crewmitgliedern. Die US-Behörde für Atomenergie hat den Bombentest mehrfach verschoben. Die Aktivisten könnten Amchitka in sieben Tagen erreichen, aber was bringt das, wenn nicht mal ein offizieller Termin für die Sprengung feststeht? Außerdem will ein Teil der Gruppe nach Hause. Einer fürchtet, seinen Job zu verlieren, einem anderen ist das Geld ausgegangen.

Sie haben in den vergangenen Wochen eine Menge gestritten: über die Frage, ob Marihuana-Rauchen an Bord dem Ansehen ihres Projekts schadet, ob ein klarer Himmel eher naturwissenschaftlich oder mit gutem Karma zu erklären ist. Sie haben sich gegenseitig bezichtigt, die Schokoladenvorräte zu plündern. Jetzt, in Sand Point, nehmen die Diskussionen an Schärfe zu. Sie haben einen Papierhut auf das Schiff gebracht. Wer ihn trägt, darf reden. Alle zerren daran. Bald ist er zerrissen.

Es gibt einen Grundsatz auf der „Phyllis Cormack“: Beschlüsse werden einstimmig gefällt oder gar nicht. Es dauert drei Abende, bis sich die Gruppe einigt. Die Reise wird abgebrochen, das Schiff kehrt nach Vancouver zurück. Bei ihrer Ankunft im Hafen warten mehrere Hundert Unterstützer am Pier. In den vergangenen Tagen haben alle großen Zeitungen des Landes über Greenpeace berichtet, die „New York Times“ schrieb: „Zwölf wütende Männer haben ein Zeichen gesetzt.“ Bei einer Demonstration in Vancouver haben sich 10 000 Studenten und Schüler vor dem US-Konsulat versammelt, und auch der kanadische Premierminister verurteilt inzwischen die Testpläne.

Ein Teil der Crew geht gleich wieder an Bord, Greenpeace hat ein neues Schiff gechartert, ein altes Minensuchboot, doppelt so groß und doppelt so schnell wie die „Phyllis Cormack“. Doch es reicht nicht. Als die Bombe am 6. November 1971 gezündet wird, befindet sich die „Edgewater Fortune“ mehrere Hundert Kilometer von Amchitka entfernt. Die befürchteten Erdbeben und Tsunamis bleiben aus, 1000 Seeotter sterben, in der US-amerikanischen Bevölkerung hat die Ablehnung weiterer Tests stark zugenommen. Fünf sind bereits geplant.

Der Sieg von Greenpeace wird erst im folgenden Februar deutlich. Da erklärt die US-Regierung, auf neue Tests zu verzichten, jedenfalls auf Amchitka. Es heißt: „aus politischen und anderen Gründen“.

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