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Panorama: Die Handy-Lüge

Studie: Immer mehr Menschen tun nur so, als ob sie telefonieren

Überall laufen Menschen herum, die mit wichtigen Mienen Handys an ihr Ohr pressen und vor sich hinplappern. Aber telefonieren sie wirklich? Wenn man einer Studie von James E. Katz, einem Professor für Kommunikation an der amerikanischen „Rutgers University“ glaubt, dann gibt es eine überraschend große Zahl von Leuten, die nur so tun, als ob sie telefonieren. Bei einer Umfrage unter seinen Studenten gaben mehr als zwei Drittel zu, dass sie gelegentlich nur zum Schein telefonieren. Besonders in Amerika ist die Handy-Lüge zu einem Hilfsmittel für Menschen geworden, die sich Stress vom Hals halten wollen. Die Phantom-Telefonierer sind ziemlich einfallsreich. Eine Frau entdeckt an der vollen Kasse im Supermarkt, dass sie ihr Geld vergessen hat, rennt zum Auto raus, um es zu holen, es ist nicht da, und sie kommt mit Handy am Ohr in die auf sie wartende Schlange zurück, entschuldigt sich, während sie ihren Sohn am Telefon ausschimpft, dass er schon wieder an ihrer Tasche war und das Portemonnaie rausgeholt hat. Die Frau war weder Mutter, noch war der kleine Patrick an der anderen Leitung, ihr war die ganze Episode nur peinlich. Sie bekam mit ihrer Lüge aber sehr verständnisvolle Blicke von allen Eltern.

„Die Menschen haben die Technologie auf den Kopf gestellt“, kritisiert der Wissenschaftler Katz. „Sie benutzen ein Gerät, das dazu da ist, mit Menschen zu sprechen, die weit weg sind, aber in Wirklichkeit kommunizieren sie mit Leuten, die neben ihnen stehen.“

Vor allem mit Leuten, die sie nicht kennen. Christine Rosen, die soziale Folgen der Technologie auf die Gesellschaft an dem „Ethics and Public Policy Center“ in Washington studiert, erkannte einen der Hauptgründe für erfundene Gespräche: „Handys erlauben den Leuten, völlig Fremden zu zeigen, dass sie irgendwie dazugehören.“ Die anderen Gründe neben der Demonstration, dass man beliebt, vernetzt und irre beschäftigt ist, sind die, unangenehmen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Manche erfinden Telefonate, um dem Kontakt mit Nachbarn, Mitarbeitern oder Bettlern aus dem Wege zu gehen. Frauen lachen lebhaft in ihr Handy, um unerwünschte Anmachen von Männern zu verhindern. Männer hingegen reden mit der Luft, um Frauen weniger auffällig beobachten zu können. Eine Frau, die sich belästigt fühlt, kann sich helfen, indem sie ihrem imaginären Mann sagt: „Oh, du bist um die Ecke! Bis gleich!“ Manchmal genügt es sogar, ein Handy in der Hand zu halten, um der Umwelt zu signalisieren: Hände weg, ich bin nicht allein.

Eine Anwältin in San Francisco gab zu, dass sie manchmal mit einem wichtigen Gesichtsausdruck und einem Handy am Ohr ins Büro kommt, wenn sie zu spät ist, so als wäre sie wegen eines Gespräches mit einem Klienten aufgehalten worden. Keiner wagt sie deshalb zu kritisieren. Ein Verkäufer ausgerechnet in einem Telefongeschäft in Albany gestand, dass er zum „Faker“ wird, wenn er keine Lust zum bedienen hat, weil ihm ein Kunde nicht gefällt, und deshalb schnell ein Kollege einspringen muss.

Als eine Frau im Fahrstuhl laut jemanden am Telefon anpöbelte, reagierte ein Mann mit einer ähnlichen Tirade, die am anderen Ende aber niemanden traf. Jeder im Fahrstuhl bekam diese Vorstellung mit, auch die laute Frau, die errötend das Gespräch beendete.

Ein Student aus San Diego benutzte sein Handy, um ohne große Umschweife, dafür aber eifrig schwafelnd, in ein Baseball-Spiel zu kommen, ohne dass er ein Ticket hatte. Der Kartenabreißer mochte den eifrig redenden Mann mit der wichtigen Aura nicht unterbrechen.

Sabine Reichel

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