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Die Jugend verzaubert Deutschland: Wir sind Lena Müller-Vettel

Die deutschen Fußballer zaubern in Südafrika, Sebastian Vettel wird Formel-1-Weltmeister und Lena siegt in Oslo: Spätestens seit dem 29. MAI hat die Jugend Deutschland im Griff.

Instinktiv wirft sich Thomas Müller dem Ball hinterher. Er war ausgerutscht im Zweikampf auf dem Rasen von Kapstadt. Doch halb im Fallen, halb im Liegen bringt er noch diesen genialen Pass auf Lukas Podolski zustande. Der muss nur noch ablegen auf Miroslav Klose – und schon steht es 2:0 im WM-Viertelfinale gegen Argentinien. Nicht über den südamerikanischen Ballkünstler Lionel Messi spricht daraufhin die ganze Welt, sondern über diesen Thomas Müller und die jüngste deutsche Nationalelf seit 76 Jahren. Die Leichtigkeit, mit der sie in den folgenden Minuten auf 4:0 erhöht, verzückt nicht nur Millionen vor den deutschen Public-Viewing-Leinwänden. Endgültig ist damit die neue, unbeschwerte Fußball-Generation geboren, der das Ausscheiden im Halbfinale gegen Spanien schnell verziehen ist. Weil sie zuvor so schön gezaubert hat. Und weil Deutschland sein Sommermärchen in diesem Jahr bereits erlebt hat.

Denn Deutschland ist längst Europameister – im Singen. Wie groß die Sehnsucht nach dem Gewinn des Eurovision Song Contests tatsächlich war, wird erst so richtig klar, als ein herbeigecastetes Mädchen namens Lena Meyer-Landrut allen zeigt, wie einfach das ist. Gerade 19 Jahre alt geworden ist sie, als sie in Oslo vor 125 Millionen Fernsehzuschauern siegt. Thomas Müller, die Seele der begeisternden deutschen Mannschaft, ist nur ein Jahr älter, als er in Südafrika WM-Torschützenkönig wird. Und wenige Monate später wird Sebastian Vettel in Abu Dhabi mit 23 Jahren zum jüngsten Formel-1-Weltmeister aller Zeiten.

Deutschland ist verzaubert von seiner Jugend. In einer alternden Gesellschaft, deren Generationenvertrag nicht mehr aufgeht, werden Lena – die ihren sperrigen Doppelnamen für Oslo ablegte, auch wenn ihr das ein wenig „Assi-Big- Brother-Style“ vorkam – Müller und Vettel zur Projektionsfläche der Älteren und zum Vorbild der Jüngeren. Die Älteren freuen sich vor allem darüber, dass die „Jugend von heute“ nicht nur manierenlos und kriminell ist. „Es war lange nicht mehr so, dass Menschen um die 20 durch herausragende Leistungen aufgefallen sind“, sagt Klaus Hurrelmann. Der 66-Jährige ist Jugendforscher an der Berliner Hertie School of Governance. Lena, Vettel und Müller, sagt er, seien „Gegenfiguren“ zu jenen, die „durch destruktive Dinge wie Gewalt und Alkohol auffallen und die sich nicht an die Regeln halten“.

Dabei hat sich auch Lena in Oslo eigentlich nicht an die Regeln gehalten. Ohne Feuerwerk, Eistänzer oder Plastikbrüste tritt sie auf, ganz allein im kleinen Schwarzen mit ein wenig Lippenstift – und besiegt die jahrelang beklagte Balkan- Connection mit 76 Punkten Vorsprung. Dabei sang sie noch vier Monate zuvor ausschließlich unter der Dusche.

Ähnlich rasant steigt Thomas Müller vom unbekannten Regionalligaspieler zum WM-Helden auf und lässt einen Michael Ballack vergessen, dessen Ausfall im Mai noch beinahe Staatstrauer ausgelöst hatte. Und Fahrtalent Sebastian Vettel überholt in seiner dritten Saison den mit 40 Jahren zurückgekehrten Rekordweltmeister Michael Schumacher.

Ist es ihre Jugend, die sie so stark macht? Oder sind sie so stark trotz ihrer Jugend? Ein wenig von beidem, glaubt Klaus Hurrelmann. Einerseits seien sie trotz ihres Alters schon recht gefestigte Persönlichkeiten. Lena, geschickt gemanagt von ihrem Entdecker, dem Medienprofi Stefan Raab, macht trotz des entstehenden Hypes um ihre Person brav ihr Abitur und beantwortet konsequent kaum Fragen zu ihrem Privatleben. Sebastian Vettel schafft es, in der arroganten Scheinwelt der Formel 1 bodenständig zu bleiben. Und Thomas Müller ist mit 20 schon verheiratet und lässt sich in Bayern nieder. Solche Kleinigkeiten seien für die Wahrnehmung als eigenständige Persönlichkeit sehr wichtig, sagt Klaus Hurrelmann.

Andererseits ist gerade die jugendliche Unangepasstheit ein Sympathiefaktor. Lena zaubert in Oslo ein Lächeln auf die Lippen gestandener Journalisten. Und Thomas Müller verblüfft die Weltpresse, als er grinsend wie ein Schuljunge seine Oma grüßt – nachdem er England im Achtelfinale mit zwei Toren und einer Vorlage überlaufen hat. Und Oma kann sich vor Interviewanfragen kaum retten.

Lena, Müller und Vettel stehen auch für ein neues Deutschland. Ein junges, frisches Land mit neuem Selbstbewusstsein und entspanntem Nationalstolz. „Es ist wichtig, dass diese Erfolge nicht durch etwas Beängstigendes wie Physik oder Militär kommen, sondern durch Musik und Sport“, sagt Hurrelmann. Es fällt auch dem Rest der Welt nicht schwer, Menschen wie Lena, Thomas Müller oder Sebastian Vettel sympathisch zu finden. Und Deutschland hat sich dadurch selbst wieder ein wenig lieb. Was im Sommer 2006 begann, wird im Sommer 2010 Normalität: Das Land hat keine Probleme mehr mit der schwarz-rot-goldenen Identität, sei es in Oslo, in Südafrika oder in Abu Dhabi.

Alle vier Jahre fragt Klaus Hurrelmann in der Shell-Jugendstudie die junge Generation, wie sie sich fühlt. Ergebnis 2010: Die Jugend blickt wieder zuversichtlich in die Zukunft. Die Studie wurde noch vor dem „Wunder von Oslo“ durchgeführt. Hurrelmann ist sich sicher: Hätten er und sein Team die Jugendlichen erst Ende des Jahres befragt, das Ergebnis wäre noch deutlicher ausgefallen.

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