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Panorama: Die Macht der Aggressiven

Die Massakerwarnung aus Stuttgart löst eine Debatte aus – wie soll der Staat auf Drohungen reagieren?

Es ist ein Teufelskreis: Das angekündigte Massaker am Nikolaustag blieb zwar aus, aber die Aufregung macht ähnliche Gewaltdrohungen für Nachahmer noch attraktiver. Obwohl nicht jeder Folgetäter beabsichtigt, seine Ankündigungen auch umzusetzen, bestehen zwischen vermeintlichen und tatsächlichen Tätern durchaus Parallelen: Es ist der Wunsch nach Macht, der die einen zu wilden Behauptungen und die anderen oft in den Tod treibt, wie der Aachener Psychoanalytiker Micha Hilgers in einem Gespräch mit der Agentur AP erklärte. „Das ist natürlich ein berauschendes Gefühl, wenn da eine große Polizeiaktion anläuft.“ Wo sonst Unterlegenheitsgefühle und Ohnmacht herrschten, erzeuge die Freude daran, andere in Angst und Schrecken zu versetzen, ein lustvolles Machtgefühl. Eine Tat wie der Amoklauf des 18-jährigen Schülers in Emsdetten habe für diese kleine Risikogruppe eine Modellfunktion. „Nachahmer haben schon mit dem Gedanken gespielt, und für die ist das dann ein letzter Auslöser.“ Für die meisten Täter reiche die öffentliche Aufregung über ihre Gewaltankündigungen jedoch völlig aus. „Die Ankündiger versuchen, sich zu schützen, und genießen lediglich aus dem Verborgenen das Gefühl von Macht“, sagt Hilgers. „Die Ausführer hingegen haben einen immensen Hass auf andere und auf sich selbst und nehmen den eigenen Tod in Kauf. Das ist ein wesentlicher Unterschied.“

Dass derzeit vor allem Schüler mit Gewalttaten drohen, liegt nach Ansicht des Würzburger Psychologen und Amokexperten Armin Schmidtke an der großen Beeinflussbarkeit jugendlicher Persönlichkeiten. So wie junge Menschen eher Popstars nachliefen, identifizierten sie sich auch leichter mit anderen Amokläufern, erklärt er. Viele Täter hätten zudem eine besondere Affinität zu Waffen und litten an narzisstischen Kränkungen. „Sie werden ausgegrenzt und wollen sich an der Institution und den Mitschülern rächen“, sagt Schmidtke. Besonders in den ersten zehn Tagen nach einem Amoklauf sei die Gefahr von Folgetaten groß.

Der Kriminologe Christian Pfeiffer sieht zudem in der gesellschaftlichen Polarisierung einen Grund dafür, dass Frustration und Hass bei Schülern in Gewalttätigkeit umschlagen. „Wir produzieren in Deutschland wesentlich mehr Verlierer als andere europäische Länder“, sagte der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen der Hannoverschen „Neuen Presse“. „Es gibt mehr Sitzenbleiber. Und es wird zu wenig getan, um das zu ändern. Amokläufer sind immer auch gescheiterte Existenzen.“ Auch Hilgers fordert, die Gesellschaft müsse sich viel mehr mit problematischen Jugendlichen beschäftigen. Als kontraproduktiv kritisiert der Psychoanalytiker aber auch die öffentlichen Reaktionen von Politikern auf Amokwarnungen: „Die Wahrscheinlichkeit, dass wir Nachahmer haben werden, steigt, wenn wir das Thema auch noch hysterisch behandeln.“

Der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech verteidigte am Donnerstag die Informationspolitik der Landesregierung. Die Kritik an der öffentlichen Warnung sei „völlig unberechtigt“ und gehe „an der Sache vorbei“, sagte Rech. Die Behörden müssten in einem solchen Fall „ein hohes Maß an Fürsorglichkeit und Verantwortlichkeit“ an den Tag legen. Eine andere Entscheidung sei nicht möglich gewesen. Den Vorwurf, die öffentliche Warnung habe zu Unruhe und Chaos geführt, wies der Minister zurück.

Der niedersächsische Innenminister Busemann verteidigte seinen Amtskollegen. Die Entscheidung über einen Schulbesuch ihrer Kinder in einer solchen Situation dürfe angesichts der Gefährdung nicht den Eltern überlassen bleiben.

Die Gewerkschaft der Polizei hält dagegen das Agieren zur Bewältigung der Amokdrohung für unprofessionell. Polizeitaktisch hätte es Möglichkeiten gegeben, für die Sicherheit an den Schulen zu sorgen, ohne die Öffentlichkeit zu beunruhigen und gleichzeitig den Täter zu warnen, kritisierte der GdP-Landesvorsitzende Josef Schneider in Stuttgart. Die Öffentlichkeit sei verunsichert. Es werde wohl Tage oder Wochen brauchen, bis konkrete Fakten ermittelt seien, die wieder zur Beruhigung beitragen würden. Schneider warf dem Kultusministerium vor, die öffentliche Aktion einseitig gestartet zu haben. Eine öffentliche Warnmeldung dürfe nur vom Innenministerium veranlasst werden.

Die nordrheinwestfälische Schulministerin Sommer forderte in einer Mail an alle Schulen die Lehrerinnen und Lehrer auf: „Nehmen Sie Hinweise bitte ernst und wenden Sie sich an die Polizei, um Maßnahmen mit ihr abzusprechen.“ Wer Anzeichen bemerke, „darf sich nicht scheuen, sofort die Polizei zu verständigen zum Schutz der Mitschüler, Lehrer und auch des potenziellen Täters vor sich selbst“, sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Wolf. Tsp/ddp

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