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Loveparade-Katastrophe: Die schweigende Minderheit

Keine Kommentare, keine Erkenntnisse, nichts. Duisburgs Offizielle sagen nichts zu den Toten der Loveparade. Und die Bürger? Eine Frau schrieb auf ihr T-Shirt: „Ich schäme mich, Duisburgerin zu sein“.

Diese Stadt schweigt. Sie schweigt an Telefonhörern, an Behördenpforten, in Fraktionszimmern.

Die dieses Schweigen brechen wollen, haben sich am Donnerstagmorgen vor dem Duisburger Rathaus versammelt, etwa 300 Demonstranten sind es geworden. Sie sprechen nacheinander durch ein kleines Megafon, mit bebender Stimme und Tränen in den Augen. Erzählen von ihrem Überlebenskampf. Sie sind diejenigen, die das Drama vom Samstag überstanden haben. Und immer wieder skandieren sie gemeinsam: „Sauerland weg! Sauerland weg! Sauerland weg!“ Aber Sauerland schweigt.

Adolf Sauerland, der Oberbürgermeister der Stadt, den viele mit gewichtigen Gründen verantwortlich machen für die Katastrophe von Duisburg, bei der inzwischen 21 Menschen ihr Leben verloren und es fast 350 Verletzte zu versorgen gab. 40 von ihnen liegen noch heute, sechs Tage nach dem Desaster, in den Krankenhäusern, einige auf Intensivstationen. Viele halten Sauerland nicht nur für verantwortlich, sie halten ihn für mitschuldig, auch dafür wurden in den vergangenen Tagen einige Indizien zusammengetragen. Aber Sauerland schweigt.

Es war für angereiste Journalisten in dieser Woche unmöglich, sich persönlich ein Bild von Adolf Sauerland zu machen. Nachdem er am Morgen nach der Loveparade Blumen am Unglücksort niederlegte und dort mit Dreck beworfen und beschimpft wurde, hat er sich weggeduckt. Er tauchte ab, wurde zum Phantom. Ließ sich nicht mehr blicken. Ließ verlauten. Dass er nicht an Rücktritt denke. Und dass er nicht plane, am Samstag bei der offiziellen Trauerfeier mit Bundespräsident Christian Wulff und Kanzlerin Angela Merkel zu erscheinen. Er wolle ja nicht provozieren, hieß es aus dem Rathaus.

Doch wäre es nicht Aufgabe eines Oberbürgermeisters gewesen, den Verletzten im Krankenhaus einen Besuch abzustatten? Hätte es sich nicht gehört, den Angehörigen der Opfer aufrichtig seine Anteilnahme und sein Bedauern zu bekunden, statt nur auf der ersten, gespenstischen Pressekonferenz schmallippig Floskeln aufzusagen? Und gebieten es nicht Aufrichtigkeit und Rückgrat, Stellung zu nehmen zu all den Vorwürfen, die gegen ihn erhoben wurden, etwa dem, dass er sich leichtfertig und fahrlässig und vielleicht auch verblendet von der Ruhm versprechenden Aussicht auf das große Ereignis in seiner gebeutelten Stadt über zahlreiche Sicherheitsbedenken hinweggesetzt habe? Doch Adolf Sauerland schwieg – und schuf damit das Bild eines extrem kaltherzigen, unsensiblen und taktlosen Menschen.

Geboren wurde Sauerland 1955, er ist gelernter Berufsschullehrer, verheiratet seit 1985, hat vier Kinder. Aufgewachsen in Walsum, das 1975 in Duisburg eingemeindet wurde, seitdem nördlichster Bezirk dieser links und rechts den Rhein entlang gewachsenen Stadt ist. Seit 1980 ist er in der CDU, in der er Karriere machte: vom JU-Schatzmeister über den Kreisvorsitz in den Bezirksvorsitz, in den Rat der Stadt, Vizevorsitzender der Ratsfraktion, dann Vorsitzender, 2004 folgt die Wahl zum Oberbürgermeister, offenbar ist er beliebt in der Arbeiterstadt, jedenfalls wird er 2009 wiedergewählt. Ein Mann, könnte man also denken, mit einem Gefühl, mit einem Sinn für die Stadt und ihre Bürger.

Am Mittwoch dann gab er der „Bild“-Zeitung ein Interview, aber auch das nur beredtes Schweigen. Es addiert zum Bild der Taktlosigkeit noch die Darstellung eines Politikers, der Verantwortlichkeit an Untergebene abwälzt und der in abenteuerlichen Ausflüchten Halt sucht. „Sie persönlich hat also nie jemand gewarnt?“, wird Sauerland gefragt. „Nein, persönlich nicht.“ Sind demnach Sicherheitshinweise und Skepsis von Polizei, Feuerwehr und Stadtrat weniger ernst zu nehmen, weil sie nur öffentlich vorgetragen wurden und nicht unter vier Augen?

Am Donnerstagmorgen schaltete sich die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ein und forderte, Sauerland müsse die politische Verantwortung übernehmen. Löst das etwas bei ihm aus? Am Nachmittag jedenfalls stellte Sauerland auf seine in der vergangenen Woche schwarze Homepage eine persönliche Erklärung: „Dies ist eine unfassbare Tragödie und wir sind nicht in der Situation, behaupten zu können, das Leid der Opfer und der Angehörigen auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können“, steht da. Und an die Angehörigen der Opfer gerichtet: „Ich weiß, dass Sie von mir Antworten erwarten, ich kann Ihnen diese heute nicht geben.“

Wie der Oberbürgermeister, so hält es auch die Stadt, halten es die, die sie repräsentieren, regieren und verwalten sollen.

Am Dienstag im Duisburger Polizeipräsidium, also an dem Tag, nach dem Rainer Schaller, der Veranstalter der Loveparade, den schweren Vorwurf gegen die Polizei erhoben hatte, sie hätte durch Öffnen von Schleusentoren die Katastrophe eingeleitet. Ramon van der Maat ist der Polizeisprecher, ein großer, breitschultriger Mann, der keine Furcht oder Ängstlichkeit ausströmt und mit seinem weißen Diensthemd und den schwarzen Schulterklappen auch als Kapitän des Traumschiffes durchgehen könnte. Van der Maat sagt: „Die Duisburger Polizei sagt gar nichts mehr. Die Ermittlungen haben die Kollegen aus Köln übernommen. Die sagen auch nichts, weil sie gerade erst mit den Ermittlungen begonnen haben. Für Stellungnahmen fragen Sie bei der Staatsanwaltschaft Duisburg in der Koloniestraße nach, die sind zuständig.“

In der Koloniestraße fordert der Pförtner vor der Sicherheitsschleuse eine telefonische Terminansprache. Am Mittwochmorgen ertönt endlich einmal nicht die Automatenstimme der Warteschleife, sondern ist Rolf Haferkamp, der Sprecher der Staatsanwaltschaft, persönlich am Apparat.

Rolf Haferkamp sagt: „Zum derzeitigen Stand der Ermittlungen sagt die Staatsanwaltschaft Duisburg gar nichts. Das ist alles noch zu früh. So eine Ermittlungsarbeit ist wie die Gründung einer Firma, ein Riesenapparat. Zu einzelnen Vorwürfen wie dem von Schaller sagen wir gar nichts, wir können nicht zu jedem Gerücht eine Stellungnahme abgeben.“

Rolf Cebin war vor kurzem noch Polizeichef der Stadt, ist seit Mai in Pension und hatte schon frühzeitig seine Skepsis über die Durchführbarkeit der Loveparade angemeldet. Es sei schwierig, in Duisburg ein geeignetes Gelände für ein solches Großereignis zu finden, hatte er 2009 gesagt. Er war damals von der CDU massiv angegangen worden, weil er Duisburg in schlechtem Licht erscheinen lasse, seine Demission durch das Innenministerium war gefordert worden. Herr Cebin? Polizeisprecher van der Maat reagiert prompt, „der ist in Urlaub“.

Uwe Linsen ist der Geschäftsführer der SPD-Ratsfraktion. „Herr Linsen, hat es politischen Druck auf die Entscheider gegeben, diese Loveparade um jeden Preis auch gegen die Bedenken in die Stadt zu holen?“ Uwe Linsen lehnt sich zurück in seinem Stuhl und sagt: „Es hat gewiss eine Erwartungshaltung an die Kulturhauptstadt gegeben. Aber wir von der SPD haben uns eine Woche der Anteilnahme und der Pietät verordnet und werden aus Respekt für die Toten kein politisches Kapital aus der Katastrophe schlagen.“

Anders als das verantwortungsscheue Schweigen der Stadt ist das Schweigen im Tunnel der Karl-Lehr-Straße, am Unglücksort, wo viele, viele Menschen hinkommen. Es ist nicht das Schweigen der Aussageverweigerer, es ist das Schweigen der Traurigen, ein taktvolles Schweigen. Die ersten Menschen kommen in der Früh, es werden 100, vielleicht 200. In der Mittagspause werden es mehr, nach Feierabend sind es an die 1000, die durch den dunklen Gang laufen, vorbei an den unzähligen ewigen Lichtern, den Blumen, den Zetteln mit Abschiedsworten und den Plakaten der Anklage. Ernst sind die Gesichter und immer stumm, hier ist nicht der Ort für laute Wut.

Seit Mittwoch sind Seelsorger im Einsatz, die Feuerwehr hat einen Container bereitgestellt, in dem die Fassungslosen, Überforderten, Verzweifelten Trost bei den Pfarrern suchen können. Dieser Container ist im Übrigen der einzige Beitrag, den die Stadt für die Seelsorge leistet. Im Gegenteil, ein Vertreter des CVJM aus Münster berichtet von einer Familie, die ihren Sohn bei der Katastrophe verloren hat. Am Mittwoch habe sie einen Anruf aus der Duisburger Stadtverwaltung erhalten, sie, die Familie, möge doch jetzt bitte Sorge tragen, dass der tote Sohn abgeholt werde.

Die Kirchenmänner haben viel zu tun im Tunnel der Karl-Lehr-Straße. Ein Kondolenzbuch liegt aus, am Mittwochabend stehen die Menschen in langer Schlange und warten darauf, sich eintragen zu können. Das Buch wurde vom Bürgerverein „Zukunftsstadtteil“ hierhergebracht, einer Art Bürgerinitiative des angrenzenden Stadtteils Hochfeld. Michael Willhardt ist ihr Vorsitzender, ein Soziologe, und der sagt, dass die Duisburger sehr viel Hoffnung in diese Loveparade gelegt hatten, weil sonst nicht viel los ist in Duisburg.

Man kann das in Zahlen ausdrücken: 13,3 Prozent Arbeitslosigkeit, jeder Fünfte zieht weg, die Stadt hat Schulden in Milliardenhöhe, muss ihren Haushalt von der Landesregierung genehmigen lassen, Museen werden geschlossen, Schwimmbäder, Schulen, alles funktioniert unter Vorbehalt, ein Kino gibt es noch für die knapp 500 000 Einwohner. „Duisburg“, sagt Soziologe Willhardt, „hat noch keinen Strukturwandel vollzogen, ja nicht einmal eine Idee davon.“

Man kann die Trostlosigkeit erlaufen. In der Fußgängerzone zum Beispiel, der Königstraße, in der eine große Niki-de-Saint-Phalle-Skulptur den Springbrunnen schmückt, die aber ansonsten nur den üblichen Billigketten-Ramsch bietet. Aus der etwas zu groß geratenen Einkaufsmall ragt eine überdimensionierte Leiter hoch hinauf, auch eine Skulptur, eine Himmelsleiter, sie endet in der Luft.

Welche Identität hat Duisburg noch? Die einstige blühende Montanstadt ist immer noch der bedeutendste Standort für Stahlproduktion in Europa. Bei der Hafenrundfahrt – nach wie vor ist Duisburg Ruhrort der größte Binnenhafen Europas, und wenn man die privat betriebenen Becken hinzurechnet, sogar der größte der Welt – fährt die „MS Mercator“ an einer Stahlhütte vorbei, der Kapitän erzählt, dass hier einst 5000 Menschen gearbeitet hätten, jetzt sind es noch 250. Am anderen Ende des Ufers steht eine gigantische Anlage, die hochwertige heimische Kohle mit der importierten minderwertigen Kohle aus Australien und Südamerika mischt, bevor sie zu den Kraftwerken verschifft wird. Der Kapitän klingt fast stolz, als er sagt, wie viele Menschen nötig sind, um das alles zu betreiben: „Nur drei!“

„Es gibt in Duisburg keine Vision“, sagt Willhardt, „keine rote Linie, keinen Plan, wie es weitergehen könnte.“

Am Donnerstag steht eine junge Frau vor dem Rathaus, in dem sich der Oberbürgermeister der Stadt versteckt hält. Sie hat ihr T-Shirt bemalt: „Ich schäme mich, Duisburgerin zu sein.“ Und Sauerland schweigt.

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