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Panorama: Die Wölfe kommen

In der Türkei fallen sie Menschen an – Temperaturen um minus 45 Grad treiben die Tiere in die Stadt

Der sechsjährige Burhan war zum Spielen in den Schnee hinausgelaufen, als die Wölfe in Yüksekova einfielen. Ein großer Wolf packte den Kopf des Kindes, ein anderer verbiss sich in sein Bein; fünf weitere Wölfe fielen über seine Spielkameraden her. Den herbeieilenden Erwachsenen erging es nicht besser, obwohl sie mit Stöcken und Steinen auf die Wölfe losgingen.

Die tobenden Tiere sprangen ihnen an die Kehle und in die Gesichter. Erst als ein Wolf erschlagen im Schnee lag, ließ das übrige Rudel ab und flüchtete. Zurück blieben 15 verletzte Menschen, ein Teil von ihnen ist schwer verletzt. Fünf – darunter der kleine Burhan – schweben in Lebensgefahr.

Der Angriff ereignete sich um acht Uhr morgens in einer 50 000 Einwohner zählenden Stadt: Die Wölfe sind wegen des harten Winters in der Osttürkei halb wahnsinnig vor Hunger.

Knapp 7000 Wölfe leben noch in den Wäldern von Zentral- und Ostanatolien, aus denen sie sich normalerweise nicht herauswagen. In diesem Jahr trieb die Not aber schon mehrfach halb verhungerte Rudel auf Nahrungssuche aus dem Schutz des Waldes heraus und in menschliche Siedlungen hinein.

Im bisher schlimmsten Angriff wurde vor drei Wochen im zentralanatolischen Kayseri ein zehnjähriger Junge von Wölfen getötet. Ein Rudel hungriger Wölfe hatte eine Gruppe schlittenfahrender Kinder auf einem Hügel außerhalb von Kayseri überrascht. Der kleine Onur lief nicht so schnell wie seine Kameraden, wurde von den Wölfen eingeholt und zerrissen. Bis Helfer den Unglücksort erreichten, hatten die Tiere dem Kind die Kehle durchgebissen.

Ursache für die ungewöhnliche Aggression der Wölfe, die sich normalerweise auch in mageren Jadgzeiten mit Aas und sogar pflanzlicher Nahrung begnügen, ist der selbst für osttürkische Verhältnisse besonders harte Winter. Temperaturen bis zu 45 Grad unter null wurden im Osten der Türkei in den letzten Tagen gemessen, selbst hohe Wasserfälle sind zu Eis erstarrt. Diese Kälte halten selbst die Wölfe kaum aus; zum Fressen finden sie schon länger nichts mehr. Den Gerüchen, die aus menschlichen Siedlungen an ihre empfindlichen Nasen dringen, kann manch ein Rudel nicht mehr wiederstehen.

Im Todesfall des kleinen Onur in Kayseri waren die Wölfe nach Ansicht der örtlichen Behörden wohl vom Geruch der offenen Metzgerstände auf einem nahe gelegenen Markt aus dem Wald gelockt worden.

Behörden und Experten in der Osttürkei schlagen Wolfsalarm. „Die Bevölkerung sollte besonders vorsichtig sein, denn wegen des harten Winters sind die Wölfe in diesem Jahr sehr reizbar und angriffslustig“, sagt der Tierarzt Celal Aydin aus der osttürkischen Provinz Igdir, der es auf einem Fussmarsch zwischen zwei Dörfern kürzlich selbst mit zwei großen Wölfen zu tun bekam.

In Kayseri gehen polizeiliche Wolfs-Patrouillen in den Vororten auf Streife, und in Yüksekova gibt es jetzt eine Wolfs-Notrufnummer, über die jederzeit bewaffnete Hilfe angefordert werden kann. Das Kreiskrankenhaus von Yüksekova bestellte Tollwutserum für 50 Patienten, nachdem es beim Wolfsangriff vom Wochenende nicht genug Serum für alle Verletzten vorrätig hatte.

Die Bewohner der Stadt wagen sich seit diesem Angriff aber ohnehin kaum mehr aus dem Haus; zum Schulbeginn am Montag behielten viele Eltern ihre Kinder im Haus.

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